Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

fortsetzte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, so hörte
dieser die Thüren des innersten Heiligthums gehen und
sich dröhnend wieder schließen, dann sah er den Xuthus
in freudiger Bestürzung herauseilen, dieser warf sich mit
Ungestüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu
wiederholtenmalen seinen Sohn und verlangte seinen
Handschlag und seinen Kindeskuß. Der junge Mann
aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten
für wahnsinnig, und stieß ihn mit jugendlicher Kraft
von sich. Doch Xuthus ließ sich nicht abweisen. "Der
Gott selbst hat es mir geoffenbart," sprach er; "sein
Spruch lautete: Der erste, der mir draussen begegnen
würde, der sey mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie
das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin
hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau' ich dem
Gotte; mag er selbst sein Geheimniß enthüllen." Jetzt
gab sich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur
halb und mitten unter den Küssen und Umarmungen sei¬
nes Vaters mußte er seufzen: "o geliebte Mutter, wer
bist du, wo bist du? wann wird es mir vergönnt seyn,
auch dein theures Antlitz zu schauen?" Dazu kamen ihm
große Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthus,
die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten
Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht
gesetzlichen Erben ihres Fürsten empfangen würde. Sein
Vater hieß ihn aber guten Muthes seyn: er versprach
ihm, ihn den Athenern und seiner Gattin als einen Fremd¬
ling und nicht als seinen Sohn vorzustellen und gab ihm
den Namen Ion, d. h. Gänger, weil er im Tempel den
ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt hatte.

Kreusa war indessen von dem Altare Apollo's, vor

fortſetzte. Es hatte nicht ſehr lange gedauert, ſo hörte
dieſer die Thüren des innerſten Heiligthums gehen und
ſich dröhnend wieder ſchließen, dann ſah er den Xuthus
in freudiger Beſtürzung herauseilen, dieſer warf ſich mit
Ungeſtüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu
wiederholtenmalen ſeinen Sohn und verlangte ſeinen
Handſchlag und ſeinen Kindeskuß. Der junge Mann
aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten
für wahnſinnig, und ſtieß ihn mit jugendlicher Kraft
von ſich. Doch Xuthus ließ ſich nicht abweiſen. „Der
Gott ſelbſt hat es mir geoffenbart,“ ſprach er; „ſein
Spruch lautete: Der erſte, der mir drauſſen begegnen
würde, der ſey mein Sohn und ein Göttergeſchenk. Wie
das möglich iſt, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin
hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau' ich dem
Gotte; mag er ſelbſt ſein Geheimniß enthüllen.“ Jetzt
gab ſich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur
halb und mitten unter den Küſſen und Umarmungen ſei¬
nes Vaters mußte er ſeufzen: „o geliebte Mutter, wer
biſt du, wo biſt du? wann wird es mir vergönnt ſeyn,
auch dein theures Antlitz zu ſchauen?“ Dazu kamen ihm
große Zweifel, wie die kinderloſe Gemahlin des Xuthus,
die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten
Stiefſohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht
geſetzlichen Erben ihres Fürſten empfangen würde. Sein
Vater hieß ihn aber guten Muthes ſeyn: er verſprach
ihm, ihn den Athenern und ſeiner Gattin als einen Fremd¬
ling und nicht als ſeinen Sohn vorzuſtellen und gab ihm
den Namen Ion, d. h. Gänger, weil er im Tempel den
ihm Entgegengehenden als ſeinen Sohn erkannt hatte.

Krëuſa war indeſſen von dem Altare Apollo's, vor

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0099" n="73"/>
fort&#x017F;etzte. Es hatte nicht &#x017F;ehr lange gedauert, &#x017F;o hörte<lb/>
die&#x017F;er die Thüren des inner&#x017F;ten Heiligthums gehen und<lb/>
&#x017F;ich dröhnend wieder &#x017F;chließen, dann &#x017F;ah er den Xuthus<lb/>
in freudiger Be&#x017F;türzung herauseilen, die&#x017F;er warf &#x017F;ich mit<lb/>
Unge&#x017F;tüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu<lb/>
wiederholtenmalen &#x017F;einen Sohn und verlangte &#x017F;einen<lb/>
Hand&#x017F;chlag und &#x017F;einen Kindeskuß. Der junge Mann<lb/>
aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten<lb/>
für wahn&#x017F;innig, und &#x017F;tieß ihn mit jugendlicher Kraft<lb/>
von &#x017F;ich. Doch Xuthus ließ &#x017F;ich nicht abwei&#x017F;en. &#x201E;Der<lb/>
Gott &#x017F;elb&#x017F;t hat es mir geoffenbart,&#x201C; &#x017F;prach er; &#x201E;&#x017F;ein<lb/>
Spruch lautete: Der er&#x017F;te, der mir drau&#x017F;&#x017F;en begegnen<lb/>
würde, der &#x017F;ey mein Sohn und ein Götterge&#x017F;chenk. Wie<lb/>
das möglich i&#x017F;t, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin<lb/>
hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau' ich dem<lb/>
Gotte; mag er &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ein Geheimniß enthüllen.&#x201C; Jetzt<lb/>
gab &#x017F;ich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur<lb/>
halb und mitten unter den Kü&#x017F;&#x017F;en und Umarmungen &#x017F;ei¬<lb/>
nes Vaters mußte er &#x017F;eufzen: &#x201E;o geliebte Mutter, wer<lb/>
bi&#x017F;t du, wo bi&#x017F;t du? wann wird es mir vergönnt &#x017F;eyn,<lb/>
auch dein theures Antlitz zu &#x017F;chauen?&#x201C; Dazu kamen ihm<lb/>
große Zweifel, wie die kinderlo&#x017F;e Gemahlin des Xuthus,<lb/>
die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten<lb/>
Stief&#x017F;ohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht<lb/>
ge&#x017F;etzlichen Erben ihres Für&#x017F;ten empfangen würde. Sein<lb/>
Vater hieß ihn aber guten Muthes &#x017F;eyn: er ver&#x017F;prach<lb/>
ihm, ihn den Athenern und &#x017F;einer Gattin als einen Fremd¬<lb/>
ling und nicht als &#x017F;einen Sohn vorzu&#x017F;tellen und gab ihm<lb/>
den Namen <hi rendition="#g">Ion</hi>, d. h. Gänger, weil er im Tempel den<lb/>
ihm Entgegengehenden als &#x017F;einen Sohn erkannt hatte.</p><lb/>
          <p>Kr<hi rendition="#aq">ë</hi>u&#x017F;a war inde&#x017F;&#x017F;en von dem Altare Apollo's, vor<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0099] fortſetzte. Es hatte nicht ſehr lange gedauert, ſo hörte dieſer die Thüren des innerſten Heiligthums gehen und ſich dröhnend wieder ſchließen, dann ſah er den Xuthus in freudiger Beſtürzung herauseilen, dieſer warf ſich mit Ungeſtüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu wiederholtenmalen ſeinen Sohn und verlangte ſeinen Handſchlag und ſeinen Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten für wahnſinnig, und ſtieß ihn mit jugendlicher Kraft von ſich. Doch Xuthus ließ ſich nicht abweiſen. „Der Gott ſelbſt hat es mir geoffenbart,“ ſprach er; „ſein Spruch lautete: Der erſte, der mir drauſſen begegnen würde, der ſey mein Sohn und ein Göttergeſchenk. Wie das möglich iſt, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau' ich dem Gotte; mag er ſelbſt ſein Geheimniß enthüllen.“ Jetzt gab ſich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur halb und mitten unter den Küſſen und Umarmungen ſei¬ nes Vaters mußte er ſeufzen: „o geliebte Mutter, wer biſt du, wo biſt du? wann wird es mir vergönnt ſeyn, auch dein theures Antlitz zu ſchauen?“ Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderloſe Gemahlin des Xuthus, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefſohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht geſetzlichen Erben ihres Fürſten empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Muthes ſeyn: er verſprach ihm, ihn den Athenern und ſeiner Gattin als einen Fremd¬ ling und nicht als ſeinen Sohn vorzuſtellen und gab ihm den Namen Ion, d. h. Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als ſeinen Sohn erkannt hatte. Krëuſa war indeſſen von dem Altare Apollo's, vor

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/99
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/99>, abgerufen am 23.11.2024.