dem sie sich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünstigen Flehen von ihren Die¬ nerinnen unterbrochen, welche sich ihr unter Weheklagen nahten." Unglückliche Herrin," riefen sie ihr entgegen, "dein Gatte zwar ist in große Freude versetzt, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vor Zeiten, wer weiß, welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser entgegen, er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Wittwe gleich im öden Hause woh¬ nen." Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit geschlagen zu haben schien, daß sich ein so nahe liegendes Geheimniß ihm nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen des Stiefsohnes, den sie so unvermuthet erhalten hatte. "Es ist der junge Tempelhüter, den du schon kennst," erwiederten die Die¬ nerinnen; "sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben, wer seine Mutter ist, wissen wir nicht, jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bacchus gegangen, um heimlich für seinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erken¬ nungsschmaus zu feiern, uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu entdecken, nur unsre große Liebe zu dir hat uns vermocht, dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verrathen!" Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blin¬ der Treue anhing und seiner Gebieterin mit großer Liebe zugethan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthus
dem ſie ſich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünſtigen Flehen von ihren Die¬ nerinnen unterbrochen, welche ſich ihr unter Weheklagen nahten.“ Unglückliche Herrin,“ riefen ſie ihr entgegen, „dein Gatte zwar iſt in große Freude verſetzt, du aber wirſt nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Bruſt legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachſenen Sohn, den ihm vor Zeiten, wer weiß, welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieſer entgegen, er wird ſich ſeines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirſt wie zuvor einer Wittwe gleich im öden Hauſe woh¬ nen.“ Die arme Fürſtin, deren Geiſt der Gott ſelbſt mit Blindheit geſchlagen zu haben ſchien, daß ſich ein ſo nahe liegendes Geheimniß ihm nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schickſal eine Weile fort. Endlich fragte ſie nach der Perſon und dem Namen des Stiefſohnes, den ſie ſo unvermuthet erhalten hatte. „Es iſt der junge Tempelhüter, den du ſchon kennſt,“ erwiederten die Die¬ nerinnen; „ſein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben, wer ſeine Mutter iſt, wiſſen wir nicht, jetzt iſt dein Gatte zu dem Altare des Bacchus gegangen, um heimlich für ſeinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erken¬ nungsſchmaus zu feiern, uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geſchichte zu entdecken, nur unſre große Liebe zu dir hat uns vermocht, dieſes Verbot zu übertreten. Du wirſt uns ja nicht bei ihm verrathen!“ Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blin¬ der Treue anhing und ſeiner Gebieterin mit großer Liebe zugethan war. Dieſer ſchalt den Fürſten Xuthus
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dem ſie ſich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie
wurde endlich in ihrem brünſtigen Flehen von ihren Die¬
nerinnen unterbrochen, welche ſich ihr unter Weheklagen
nahten.“ Unglückliche Herrin,“ riefen ſie ihr entgegen,
„dein Gatte zwar iſt in große Freude verſetzt, du aber
wirſt nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und
an deine Bruſt legen. Ihm freilich hat Apollo einen
Sohn gegeben, einen erwachſenen Sohn, den ihm vor
Zeiten, wer weiß, welch ein Nebenweib geboren hat; als
er aus dem Tempel trat, kam ihm dieſer entgegen, er
wird ſich ſeines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber
wirſt wie zuvor einer Wittwe gleich im öden Hauſe woh¬
nen.“ Die arme Fürſtin, deren Geiſt der Gott ſelbſt
mit Blindheit geſchlagen zu haben ſchien, daß ſich ein ſo
nahe liegendes Geheimniß ihm nicht enthüllte, brütete über
ihrem traurigen Schickſal eine Weile fort. Endlich fragte
ſie nach der Perſon und dem Namen des Stiefſohnes,
den ſie ſo unvermuthet erhalten hatte. „Es iſt der junge
Tempelhüter, den du ſchon kennſt,“ erwiederten die Die¬
nerinnen; „ſein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben,
wer ſeine Mutter iſt, wiſſen wir nicht, jetzt iſt dein Gatte
zu dem Altare des Bacchus gegangen, um heimlich für
ſeinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erken¬
nungsſchmaus zu feiern, uns hat er unter Androhung des
Todes verboten, dir, o Herrin, die Geſchichte zu entdecken,
nur unſre große Liebe zu dir hat uns vermocht, dieſes
Verbot zu übertreten. Du wirſt uns ja nicht bei ihm
verrathen!“ Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener
hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blin¬
der Treue anhing und ſeiner Gebieterin mit großer
Liebe zugethan war. Dieſer ſchalt den Fürſten Xuthus
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/100>, abgerufen am 23.11.2024.
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