Der König Erechtheus von Athen, erfreute sich einer schö¬ nen Tochter, die Kreusa hieß. Mit dieser hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte, wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugebornen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblie¬ ben war, und der weder seine Geliebte verrathen, noch den Knaben ohne Hülfe lassen wollte, wandte sich an sei¬ nen Bruder Merkurius, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu ver¬ kehren hatte. "Lieber Bruder," sprach er, "eine Sterb¬ liche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen verborgen; hilf mir es retten, bring es, in der Kiste, in der es liegt und mit den Windeln, in die es gewickelt ist, nach mei¬ nem Orakel zu Delphi, und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge seyn, denn es ist mein Kind." Merkur, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in wel¬ chem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor
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Ion.
Der König Erechtheus von Athen, erfreute ſich einer ſchö¬ nen Tochter, die Krëuſa hieß. Mit dieſer hatte ſich, ohne Wiſſen ihres Vaters, Apollo vermählt, und ſie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen ſie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiſte verſchloß und in der Höhle ausſetzte, wo ſie ihre heimlichen Zuſammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß ſich die Götter des Verlaſſenen erbarmen würden. Um aber den neugebornen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu laſſen, hing ſie ihm den Schmuck um, den ſie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt ſeines Sohnes nicht verborgen geblie¬ ben war, und der weder ſeine Geliebte verrathen, noch den Knaben ohne Hülfe laſſen wollte, wandte ſich an ſei¬ nen Bruder Merkurius, welcher als Götterbote, ohne Aufſehen zu erregen, zwiſchen Himmel und Erde zu ver¬ kehren hatte. „Lieber Bruder,“ ſprach er, „eine Sterb¬ liche hat mir ein Kind geboren, es iſt die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat ſie es in einem hohlen Felſen verborgen; hilf mir es retten, bring es, in der Kiſte, in der es liegt und mit den Windeln, in die es gewickelt iſt, nach mei¬ nem Orakel zu Delphi, und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge ſeyn, denn es iſt mein Kind.“ Merkur, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in wel¬ chem er verſchloſſen lag, nach Delphi, wo er ihn vor
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Ion.
Der König Erechtheus von Athen, erfreute ſich einer ſchö¬
nen Tochter, die Krëuſa hieß. Mit dieſer hatte ſich, ohne
Wiſſen ihres Vaters, Apollo vermählt, und ſie hatte ihm
einen Sohn geboren, welchen ſie aus Furcht vor dem
Zorn ihres Vaters in eine Kiſte verſchloß und in der
Höhle ausſetzte, wo ſie ihre heimlichen Zuſammenkünfte
mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß ſich
die Götter des Verlaſſenen erbarmen würden. Um aber
den neugebornen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen
zu laſſen, hing ſie ihm den Schmuck um, den ſie als
Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem
Gotte die Geburt ſeines Sohnes nicht verborgen geblie¬
ben war, und der weder ſeine Geliebte verrathen, noch
den Knaben ohne Hülfe laſſen wollte, wandte ſich an ſei¬
nen Bruder Merkurius, welcher als Götterbote, ohne
Aufſehen zu erregen, zwiſchen Himmel und Erde zu ver¬
kehren hatte. „Lieber Bruder,“ ſprach er, „eine Sterb¬
liche hat mir ein Kind geboren, es iſt die Tochter des
Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem
Vater hat ſie es in einem hohlen Felſen verborgen; hilf
mir es retten, bring es, in der Kiſte, in der es liegt
und mit den Windeln, in die es gewickelt iſt, nach mei¬
nem Orakel zu Delphi, und lege es dort auf die Schwelle
des Tempels. Das übrige laß meine Sorge ſeyn, denn
es iſt mein Kind.“ Merkur, der geflügelte Gott, eilte
nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle
und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in wel¬
chem er verſchloſſen lag, nach Delphi, wo er ihn vor
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/93>, abgerufen am 22.11.2024.
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