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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt
hatte, sprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz
sachte mit der Jungfrau davon, doch so, daß ihre Genos¬
sinnen nicht gleichen Schritt mit seinem Gange halten
konnten. Als er die Wiesen im Rücken und den kahlen
Strand vor sich hatte, verdoppelte er seinen Lauf und
glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, sondern
einem fliegendem Roß. Und ehe sich Europa besinnen
konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen,
und schwamm mit seiner Beute dahin. Die Jungfrau
hielt mit der Rechten eins seiner Hörner umklammert,
mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre
Gewänder blies der Wind, wie in ein Segel; ängstlich
blickte sie nach dem verlassenen Lande zurück, und rief
umsonst den Gespielinnen; das Wasser umwallte den se¬
gelnden Stier, und, seine hüpfenden Wellen scheuend, zog
sie furchtsam die Fersen hinauf. Aber das Thier schwamm
dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verschwunden,
die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht
sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her, als
Wogen und Gestirne. So ging es fort, auch als der
Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie auf dem
Thiere durch die unendliche Fluth dahin; doch wußte die¬
ses so geschickt die Wellen zu durchschneiden, daß kein
Tropfen seine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen
Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang
sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten
Baume sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ih¬
ren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher, götter¬
gleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrscher
der Insel Kreta sey, und sie schützen werde, wenn er

Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt
hatte, ſprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz
ſachte mit der Jungfrau davon, doch ſo, daß ihre Genoſ¬
ſinnen nicht gleichen Schritt mit ſeinem Gange halten
konnten. Als er die Wieſen im Rücken und den kahlen
Strand vor ſich hatte, verdoppelte er ſeinen Lauf und
glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, ſondern
einem fliegendem Roß. Und ehe ſich Europa beſinnen
konnte, war er mit einem Satz ins Meer geſprungen,
und ſchwamm mit ſeiner Beute dahin. Die Jungfrau
hielt mit der Rechten eins ſeiner Hörner umklammert,
mit der Linken ſtützte ſie ſich auf den Rücken; in ihre
Gewänder blies der Wind, wie in ein Segel; ängſtlich
blickte ſie nach dem verlaſſenen Lande zurück, und rief
umſonſt den Geſpielinnen; das Waſſer umwallte den ſe¬
gelnden Stier, und, ſeine hüpfenden Wellen ſcheuend, zog
ſie furchtſam die Ferſen hinauf. Aber das Thier ſchwamm
dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verſchwunden,
die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht
ſah die unglückliche Jungfrau nichts um ſich her, als
Wogen und Geſtirne. So ging es fort, auch als der
Morgen kam; den ganzen Tag ſchwamm ſie auf dem
Thiere durch die unendliche Fluth dahin; doch wußte die¬
ſes ſo geſchickt die Wellen zu durchſchneiden, daß kein
Tropfen ſeine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen
Abend erreichten ſie ein fernes Ufer. Der Stier ſchwang
ſich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten
Baume ſanft vom Rücken gleiten und verſchwand vor ih¬
ren Blicken. An ſeine Stelle trat ein herrlicher, götter¬
gleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrſcher
der Inſel Kreta ſey, und ſie ſchützen werde, wenn er

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[40/0066] Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, ſprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz ſachte mit der Jungfrau davon, doch ſo, daß ihre Genoſ¬ ſinnen nicht gleichen Schritt mit ſeinem Gange halten konnten. Als er die Wieſen im Rücken und den kahlen Strand vor ſich hatte, verdoppelte er ſeinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, ſondern einem fliegendem Roß. Und ehe ſich Europa beſinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer geſprungen, und ſchwamm mit ſeiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eins ſeiner Hörner umklammert, mit der Linken ſtützte ſie ſich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind, wie in ein Segel; ängſtlich blickte ſie nach dem verlaſſenen Lande zurück, und rief umſonſt den Geſpielinnen; das Waſſer umwallte den ſe¬ gelnden Stier, und, ſeine hüpfenden Wellen ſcheuend, zog ſie furchtſam die Ferſen hinauf. Aber das Thier ſchwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verſchwunden, die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht ſah die unglückliche Jungfrau nichts um ſich her, als Wogen und Geſtirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag ſchwamm ſie auf dem Thiere durch die unendliche Fluth dahin; doch wußte die¬ ſes ſo geſchickt die Wellen zu durchſchneiden, daß kein Tropfen ſeine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten ſie ein fernes Ufer. Der Stier ſchwang ſich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume ſanft vom Rücken gleiten und verſchwand vor ih¬ ren Blicken. An ſeine Stelle trat ein herrlicher, götter¬ gleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrſcher der Inſel Kreta ſey, und ſie ſchützen werde, wenn er

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/66>, abgerufen am 22.11.2024.