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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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freute sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von
seinem Felsensitze und rief hernieder: "Wer du auch seyn
magst, willkommener Rohrbläser, du konntest wohl bei mir
auf diesem Felsen hier ausruhen. Nirgends ist der Gras¬
wuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du siehst,
wie behaglich der Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume
für den Hirten ist!" Merkur dankte dem Rufenden,
stieg hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit
welchem er eifrig zu plaudern anfing, und sich so
ernstlich ins Gespräch vertiefte, daß der Tag herumging,
ehe Argus sich dessen versah. Diesem begannen die Au¬
gen zu schläfern, und nun griff Merkur wieder zu seinem
Rohre, und versuchte sein Spiel, um ihn vollends in
Schlummer zu wiegen. Aber Argus, der an den Zorn
seiner Herrin dachte, wenn er seine Gefangene ohne Fes¬
seln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn
sich auch der Schlummer in einen Theil seiner Augen ein¬
schlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern
Theile, nahm sich zusammen, und, da die Rohrpfeife erst
kürzlich erfunden worden war, so fragte er seinen Gesel¬
len nach dem Ursprunge dieser Erfindung. "Das will ich
dir gerne erzählen," sagte Merkur, "wenn du in dieser
späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug
hast, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens
wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit
Namen Syringe. Die Waldgötter und Satyrn, von ih¬
rer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon lange mit
ihrer Werbung, aber immer wußte sie ihnen zu entschlü¬
pfen. Denn sie scheute das Joch der Vermählung, und
wollte, umgürtet und jagdliebend wie Diana, gleich dieser
in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf

freute ſich dieſes ungewohnten Schalles, erhob ſich von
ſeinem Felſenſitze und rief hernieder: „Wer du auch ſeyn
magſt, willkommener Rohrbläſer, du konnteſt wohl bei mir
auf dieſem Felſen hier ausruhen. Nirgends iſt der Gras¬
wuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du ſiehſt,
wie behaglich der Schatten dieſer dicht gepflanzten Bäume
für den Hirten iſt!“ Merkur dankte dem Rufenden,
ſtieg hinauf und ſetzte ſich zu dem Wächter, mit
welchem er eifrig zu plaudern anfing, und ſich ſo
ernſtlich ins Geſpräch vertiefte, daß der Tag herumging,
ehe Argus ſich deſſen verſah. Dieſem begannen die Au¬
gen zu ſchläfern, und nun griff Merkur wieder zu ſeinem
Rohre, und verſuchte ſein Spiel, um ihn vollends in
Schlummer zu wiegen. Aber Argus, der an den Zorn
ſeiner Herrin dachte, wenn er ſeine Gefangene ohne Feſ¬
ſeln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn
ſich auch der Schlummer in einen Theil ſeiner Augen ein¬
ſchlich, ſo wachte er doch fortdauernd mit dem andern
Theile, nahm ſich zuſammen, und, da die Rohrpfeife erſt
kürzlich erfunden worden war, ſo fragte er ſeinen Geſel¬
len nach dem Urſprunge dieſer Erfindung. „Das will ich
dir gerne erzählen,“ ſagte Merkur, „wenn du in dieſer
ſpäten Abendſtunde Geduld und Aufmerkſamkeit genug
haſt, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens
wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit
Namen Syringe. Die Waldgötter und Satyrn, von ih¬
rer Schönheit bezaubert, verfolgten ſie ſchon lange mit
ihrer Werbung, aber immer wußte ſie ihnen zu entſchlü¬
pfen. Denn ſie ſcheute das Joch der Vermählung, und
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[25/0051] freute ſich dieſes ungewohnten Schalles, erhob ſich von ſeinem Felſenſitze und rief hernieder: „Wer du auch ſeyn magſt, willkommener Rohrbläſer, du konnteſt wohl bei mir auf dieſem Felſen hier ausruhen. Nirgends iſt der Gras¬ wuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du ſiehſt, wie behaglich der Schatten dieſer dicht gepflanzten Bäume für den Hirten iſt!“ Merkur dankte dem Rufenden, ſtieg hinauf und ſetzte ſich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing, und ſich ſo ernſtlich ins Geſpräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argus ſich deſſen verſah. Dieſem begannen die Au¬ gen zu ſchläfern, und nun griff Merkur wieder zu ſeinem Rohre, und verſuchte ſein Spiel, um ihn vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argus, der an den Zorn ſeiner Herrin dachte, wenn er ſeine Gefangene ohne Feſ¬ ſeln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn ſich auch der Schlummer in einen Theil ſeiner Augen ein¬ ſchlich, ſo wachte er doch fortdauernd mit dem andern Theile, nahm ſich zuſammen, und, da die Rohrpfeife erſt kürzlich erfunden worden war, ſo fragte er ſeinen Geſel¬ len nach dem Urſprunge dieſer Erfindung. „Das will ich dir gerne erzählen,“ ſagte Merkur, „wenn du in dieſer ſpäten Abendſtunde Geduld und Aufmerkſamkeit genug haſt, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit Namen Syringe. Die Waldgötter und Satyrn, von ih¬ rer Schönheit bezaubert, verfolgten ſie ſchon lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte ſie ihnen zu entſchlü¬ pfen. Denn ſie ſcheute das Joch der Vermählung, und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Diana, gleich dieſer in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/51>, abgerufen am 24.11.2024.