Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert dastand, tönte unterirdischer Donner vom Boden herauf. Bebend warfen sich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht gewesen waren, in seinen Schooß; Oedipus aber schlang seinen Arm um sie, küßte sie und sprach: "Kin¬ der, lebet wohl, von diesem Tag an habt ihr keinen Va¬ ter mehr!" Aus dieser Umarmung weckte sie eine don¬ nergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob sie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte. "Was säumest du, Oedipus? Was zögern wir zu gehen?" rief es. Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er sich aus den Armen seiner Kinder los, rief den König Theseus zu sich, und legte seiner Töchter Hände in die Hand des¬ selben, zum Zeichen seiner Verpflichtung, sie nimmermehr zu lassen. Dann befahl er allen andern, umgewendet sich zu entfernen. Nur Theseus an seiner Seite durfte auf die eherne Schwelle mit ihm zuschreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren seinem Winke gefolgt, und schauten sich erst um, als sie eine gute Strecke rück¬ wärts gegangen waren. Da hatte sich ein großes Wun¬ der ereignet. Von dem Könige Oedipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu sehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu spüren; die tiefste Stille herrschte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unter¬ welt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgethan zu haben, und durch den Erdspalt war der entsündigte Greis ohne Stöhnen und Pein sachte wie auf Geisterflügeln zur Unterwelt hinabgetragen worden. Den Theseus aber erblickten sie allein, mit der Hand die Augen sich über¬ schattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes
Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert daſtand, tönte unterirdiſcher Donner vom Boden herauf. Bebend warfen ſich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht geweſen waren, in ſeinen Schooß; Oedipus aber ſchlang ſeinen Arm um ſie, küßte ſie und ſprach: „Kin¬ der, lebet wohl, von dieſem Tag an habt ihr keinen Va¬ ter mehr!“ Aus dieſer Umarmung weckte ſie eine don¬ nergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob ſie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte. „Was ſäumeſt du, Oedipus? Was zögern wir zu gehen?“ rief es. Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er ſich aus den Armen ſeiner Kinder los, rief den König Theſeus zu ſich, und legte ſeiner Töchter Hände in die Hand deſ¬ ſelben, zum Zeichen ſeiner Verpflichtung, ſie nimmermehr zu laſſen. Dann befahl er allen andern, umgewendet ſich zu entfernen. Nur Theſeus an ſeiner Seite durfte auf die eherne Schwelle mit ihm zuſchreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren ſeinem Winke gefolgt, und ſchauten ſich erſt um, als ſie eine gute Strecke rück¬ wärts gegangen waren. Da hatte ſich ein großes Wun¬ der ereignet. Von dem Könige Oedipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu ſehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu ſpüren; die tiefſte Stille herrſchte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unter¬ welt ſchien ſich ſanft und lautlos für ihn aufgethan zu haben, und durch den Erdſpalt war der entſündigte Greis ohne Stöhnen und Pein ſachte wie auf Geiſterflügeln zur Unterwelt hinabgetragen worden. Den Theſeus aber erblickten ſie allein, mit der Hand die Augen ſich über¬ ſchattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes
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Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert daſtand,
tönte unterirdiſcher Donner vom Boden herauf. Bebend
warfen ſich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater
bemüht geweſen waren, in ſeinen Schooß; Oedipus aber
ſchlang ſeinen Arm um ſie, küßte ſie und ſprach: „Kin¬
der, lebet wohl, von dieſem Tag an habt ihr keinen Va¬
ter mehr!“ Aus dieſer Umarmung weckte ſie eine don¬
nergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob ſie vom
Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte.
„Was ſäumeſt du, Oedipus? Was zögern wir zu gehen?“
rief es. Als der blinde König die Stimme vernahm und
wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er ſich aus
den Armen ſeiner Kinder los, rief den König Theſeus
zu ſich, und legte ſeiner Töchter Hände in die Hand deſ¬
ſelben, zum Zeichen ſeiner Verpflichtung, ſie nimmermehr
zu laſſen. Dann befahl er allen andern, umgewendet
ſich zu entfernen. Nur Theſeus an ſeiner Seite durfte
auf die eherne Schwelle mit ihm zuſchreiten. Seine
Töchter und das Gefolge waren ſeinem Winke gefolgt,
und ſchauten ſich erſt um, als ſie eine gute Strecke rück¬
wärts gegangen waren. Da hatte ſich ein großes Wun¬
der ereignet. Von dem Könige Oedipus war keine Spur
mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu ſehen, kein Donner
zu hören, kein Wirbelwind zu ſpüren; die tiefſte Stille
herrſchte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unter¬
welt ſchien ſich ſanft und lautlos für ihn aufgethan zu
haben, und durch den Erdſpalt war der entſündigte Greis
ohne Stöhnen und Pein ſachte wie auf Geiſterflügeln
zur Unterwelt hinabgetragen worden. Den Theſeus aber
erblickten ſie allein, mit der Hand die Augen ſich über¬
ſchattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/367>, abgerufen am 28.11.2024.
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