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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen
und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von
keiner sterblichen Hand berührt und nur vom Auge des
Theseus geschaut, enden sollte. Keinem Menschen sollte
er sagen, wo Oedipus die Erde verlassen. Bleibe das
heilige Grab, das ihn verschlingen würde, verborgen, so
werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundes¬
genossen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens seyn.
Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos er¬
laubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und
so vertiefte sich der ganze Zug in die schauerlichen Schat¬
ten des Furienhaines. Keines durfte an Oedipus rühren;
er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, schien
auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar ge¬
stärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte
ihnen den Weg zu dem vom Schicksal ihm bestimmten
Ziele.

Mitten in dem Haine der Erinnyen sah man einen
geborstenen Erdschlund, dessen Oeffnung mit einer eher¬
nen Schwelle versehen war, und zu welchem mehrere
Kreuzwege führten. Von dieser Höhle ging von uralter
Zeit her die Sage, daß sie einer der Eingänge in die
Unterwelt sey. In einen jener Kreuzwege nun trat Oe¬
dipus ein, doch ließ er sich von dem Gefolge nicht bis
zu der Grotte selbst begleiten, sondern unter einem hohlen
Baume machte er Halt, setzte sich auf einen Stein nieder
und löste den Gürtel seines schmutzigen Bettlerkleides.
Dann rief er nach einer Spende fließenden Wassers,
wusch sich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung
und zog ein schmuckes Gewand an, das ihm durch seine
Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde.

er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen
und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von
keiner ſterblichen Hand berührt und nur vom Auge des
Theſeus geſchaut, enden ſollte. Keinem Menſchen ſollte
er ſagen, wo Oedipus die Erde verlaſſen. Bleibe das
heilige Grab, das ihn verſchlingen würde, verborgen, ſo
werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundes¬
genoſſen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens ſeyn.
Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos er¬
laubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und
ſo vertiefte ſich der ganze Zug in die ſchauerlichen Schat¬
ten des Furienhaines. Keines durfte an Oedipus rühren;
er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, ſchien
auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar ge¬
ſtärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte
ihnen den Weg zu dem vom Schickſal ihm beſtimmten
Ziele.

Mitten in dem Haine der Erinnyen ſah man einen
geborſtenen Erdſchlund, deſſen Oeffnung mit einer eher¬
nen Schwelle verſehen war, und zu welchem mehrere
Kreuzwege führten. Von dieſer Höhle ging von uralter
Zeit her die Sage, daß ſie einer der Eingänge in die
Unterwelt ſey. In einen jener Kreuzwege nun trat Oe¬
dipus ein, doch ließ er ſich von dem Gefolge nicht bis
zu der Grotte ſelbſt begleiten, ſondern unter einem hohlen
Baume machte er Halt, ſetzte ſich auf einen Stein nieder
und löste den Gürtel ſeines ſchmutzigen Bettlerkleides.
Dann rief er nach einer Spende fließenden Waſſers,
wuſch ſich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung
und zog ein ſchmuckes Gewand an, das ihm durch ſeine
Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde.

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[340/0366] er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner ſterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theſeus geſchaut, enden ſollte. Keinem Menſchen ſollte er ſagen, wo Oedipus die Erde verlaſſen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verſchlingen würde, verborgen, ſo werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundes¬ genoſſen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens ſeyn. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos er¬ laubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und ſo vertiefte ſich der ganze Zug in die ſchauerlichen Schat¬ ten des Furienhaines. Keines durfte an Oedipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, ſchien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar ge¬ ſtärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schickſal ihm beſtimmten Ziele. Mitten in dem Haine der Erinnyen ſah man einen geborſtenen Erdſchlund, deſſen Oeffnung mit einer eher¬ nen Schwelle verſehen war, und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieſer Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, daß ſie einer der Eingänge in die Unterwelt ſey. In einen jener Kreuzwege nun trat Oe¬ dipus ein, doch ließ er ſich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte ſelbſt begleiten, ſondern unter einem hohlen Baume machte er Halt, ſetzte ſich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel ſeines ſchmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Waſſers, wuſch ſich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein ſchmuckes Gewand an, das ihm durch ſeine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/366>, abgerufen am 24.11.2024.