seines Vaters Polybus und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.
Bei dieser Botschaft sprach die Königin abermals tri¬ umphirend: "hohe Göttersprüche, wo seyd ihr? Der Va¬ ter, den Oedipus umbringen sollte, ist sanft an Alters¬ schwäche verschieden!" Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren König Oedipus, der, obgleich er noch im¬ mer gerne geneigt war, den Polybus für seinen Vater zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Götter¬ spruch unerfüllt bleiben sollte. Auch wollte er nicht nach Corinth gehen, weil seine Mutter Merope dort noch lebte und der andere Theil des Orakels, seine Heirath mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Diesen Zwei¬ fel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derselbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von einem Diener des Laius auf dem Berge Cithäron em¬ pfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fer¬ sen gelöst hatte. Er bewies dem Könige leicht, daß er nur ein Pflegesohn, wiewohl Erbe des Königes Polybus von Corinth sey. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den Oedipus nach jenem Diener des Laius verlangen, der ihn als Kind dem Corinther übergeben hatte. Von seinem Ge¬ sinde erfuhr er, daß dieß derselbe Hirt sey, der, von dem Morde des Laius entronnen, jetzt an der Gränze das Vieh des Königes waide.
Als Jokaste solches hörte, verließ sie ihren Gemahl und das versammelte Volk mit einem lauten Wehruf. Oedipus, der sein Auge absichtlich mit Nacht zu bedecken suchte, mißdeutete ihre Entfernung. "Gewiß befürchtet sie," sprach er zu dem Volke, "als ein Weib voll Hoch¬ muth, die Entdeckung, daß ich unedlen Stammes sey. Ich
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ſeines Vaters Polybus und rief ihn auf den erledigten Thron des Landes.
Bei dieſer Botſchaft ſprach die Königin abermals tri¬ umphirend: „hohe Götterſprüche, wo ſeyd ihr? Der Va¬ ter, den Oedipus umbringen ſollte, iſt ſanft an Alters¬ ſchwäche verſchieden!“ Anders wirkte die Nachricht auf den frömmeren König Oedipus, der, obgleich er noch im¬ mer gerne geneigt war, den Polybus für ſeinen Vater zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Götter¬ ſpruch unerfüllt bleiben ſollte. Auch wollte er nicht nach Corinth gehen, weil ſeine Mutter Merope dort noch lebte und der andere Theil des Orakels, ſeine Heirath mit der Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Dieſen Zwei¬ fel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derſelbe Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von einem Diener des Laïus auf dem Berge Cithäron em¬ pfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fer¬ ſen gelöſt hatte. Er bewies dem Könige leicht, daß er nur ein Pflegeſohn, wiewohl Erbe des Königes Polybus von Corinth ſey. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den Oedipus nach jenem Diener des Laïus verlangen, der ihn als Kind dem Corinther übergeben hatte. Von ſeinem Ge¬ ſinde erfuhr er, daß dieß derſelbe Hirt ſey, der, von dem Morde des Laïus entronnen, jetzt an der Gränze das Vieh des Königes waide.
Als Jokaſte ſolches hörte, verließ ſie ihren Gemahl und das verſammelte Volk mit einem lauten Wehruf. Oedipus, der ſein Auge abſichtlich mit Nacht zu bedecken ſuchte, mißdeutete ihre Entfernung. „Gewiß befürchtet ſie,“ ſprach er zu dem Volke, „als ein Weib voll Hoch¬ muth, die Entdeckung, daß ich unedlen Stammes ſey. Ich
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ſeines Vaters Polybus und rief ihn auf den erledigten
Thron des Landes.
Bei dieſer Botſchaft ſprach die Königin abermals tri¬
umphirend: „hohe Götterſprüche, wo ſeyd ihr? Der Va¬
ter, den Oedipus umbringen ſollte, iſt ſanft an Alters¬
ſchwäche verſchieden!“ Anders wirkte die Nachricht auf
den frömmeren König Oedipus, der, obgleich er noch im¬
mer gerne geneigt war, den Polybus für ſeinen Vater
zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Götter¬
ſpruch unerfüllt bleiben ſollte. Auch wollte er nicht nach
Corinth gehen, weil ſeine Mutter Merope dort noch lebte
und der andere Theil des Orakels, ſeine Heirath mit der
Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Dieſen Zwei¬
fel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derſelbe
Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von
einem Diener des Laïus auf dem Berge Cithäron em¬
pfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fer¬
ſen gelöſt hatte. Er bewies dem Könige leicht, daß er
nur ein Pflegeſohn, wiewohl Erbe des Königes Polybus von
Corinth ſey. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den
Oedipus nach jenem Diener des Laïus verlangen, der ihn als
Kind dem Corinther übergeben hatte. Von ſeinem Ge¬
ſinde erfuhr er, daß dieß derſelbe Hirt ſey, der, von dem
Morde des Laïus entronnen, jetzt an der Gränze das
Vieh des Königes waide.
Als Jokaſte ſolches hörte, verließ ſie ihren Gemahl
und das verſammelte Volk mit einem lauten Wehruf.
Oedipus, der ſein Auge abſichtlich mit Nacht zu bedecken
ſuchte, mißdeutete ihre Entfernung. „Gewiß befürchtet
ſie,“ ſprach er zu dem Volke, „als ein Weib voll Hoch¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/349>, abgerufen am 22.11.2024.
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