Mutter war, davon. Jokaste gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Ismene. Aber diese vier waren zugleich seine Kinder und seine Geschwister.
Die Entdeckung.
Lange Zeit schlief das grauenhafte Geheimniß und Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬ rechter König, herrschte glücklich und geliebt an Jokaste's Seite über Thebe. Endlich aber sandten die Götter eine Pest in das Land, die unter dem Volke grausam zu wü¬ then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner suchten gegen das fürchterliche Uebel, in welchem sie eine von den Göttern gesandte Geissel erblickten, Schutz bei ihrem Herrscher, den sie für einen Günstling der Götter hielten. Männer und Frauen, Greise und Kinder, die Priester mit Oelzweigen an ihrer Spitze, erschienen vor dem königlichen Pallaste, setzten sich um und auf die Stufen des Altars, der vor demselben stand, und harrten auf die Erscheinung ihres Gebieters. Als Oedipus durch den Zusammenlauf heraus¬ gerufen aus seiner Königsburg trat, und nach der Ursache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt sey, antwortete ihm im Namen aller der älteste Priester: "Du siehest selbst, o Herr, welches Elend auf uns lastet: Triften und Felder versengt uner¬ trägliche Hitze; in unsern Häusern wüthet die verzehrende Seuche, umsonst strebt die Stadt aus den blutigen Wo¬
Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine Kinder und ſeine Geſchwiſter.
Die Entdeckung.
Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬ rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬ then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte, ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬ gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬ trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0344"n="318"/>
Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach<lb/>
vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles<lb/>
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die<lb/>
jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine<lb/>
Kinder und ſeine Geſchwiſter.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="3"><head><hirendition="#fr #g">Die Entdeckung</hi><hirendition="#g">.</hi><lb/></head><p>Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und<lb/>
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬<lb/>
rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's<lb/>
Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine<lb/>
Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬<lb/>
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten<lb/>
wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche<lb/>
Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte<lb/>
Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie<lb/>
für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und<lb/>
Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen<lb/>
an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte,<lb/>ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor<lb/>
demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres<lb/>
Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬<lb/>
gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache<lb/>
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und<lb/>
Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller<lb/>
der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches<lb/>
Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬<lb/>
trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende<lb/>
Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[318/0344]
Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach
vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die
jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine
Kinder und ſeine Geſchwiſter.
Die Entdeckung .
Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬
rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's
Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine
Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten
wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche
Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte
Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie
für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und
Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen
an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte,
ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor
demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres
Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬
gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und
Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller
der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches
Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬
trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende
Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/344>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.