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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Frevels und die unerhörte Leidenschaft stritten sich in ih¬
rer Brust; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als
Theseus zurückkehrte, fand er seine Gattin erhängt und
in ihrer krampfhaft zusammengeballten Rechten einen von
ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬
schrieben stand: "Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬
trachtet; seinen Nachstellungen zu entfliehen ist mir nur
Ein Ausweg geblieben. Ich bin gestorben, ehe ich die
Treue meinem Gatten verletzt habe."

Lange stand Theseus vor Entsetzen und Abscheu wie
eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er seine Hände
gen Himmel und betete: "Vater Neptunus, der du mich
stets geliebt hast, wie dein leibliches Kind, du hast mir
einst drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wollest
und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne
ich dich an dein Versprechen. Nur Eine Bitte will ich
erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an diesem
Tage die Sonne nicht mehr untergehen!" Kaum hatte er
diesen Fluch ausgesprochen, als auch Hippolytus von der
Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr seines Vaters
unterrichtet, in den Pallast einging und der Spur des
Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und
die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen
des Vaters erwiederte der Sohn mit sanfter Ruhe:
"Vater, mein Gewissen ist jungfräulich. Ich weiß mich
dieser Unthat nicht schuldig." Aber Theseus hielt ihm
den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn
ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief seine
Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin seiner
Unschuld auf und sagte seinem zweiten Heimathlande
Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.

Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬
rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als
Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und
in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von
ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬
ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬
trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur
Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die
Treue meinem Gatten verletzt habe.“

Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie
eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände
gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich
ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir
einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt
und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne
ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich
erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem
Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er
dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der
Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters
unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des
Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und
die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen
des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe:
„Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich
dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm
den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn
ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine
Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner
Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande
Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.

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[302/0328] Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬ rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬ ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬ trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe.“ Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe: „Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/328>, abgerufen am 22.11.2024.