Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der
Unterwelt zu begegnen, ausgerüstet, wanderte er in den
Peloponnes und nach der Lakonischen Stadt Tänarus,
wo sich die Mündung der Unterwelt befand. Hier stieg
er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die
tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die
Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den
Thoren der Hadesstadt traurig lustwandelten -- denn in
der Unterwelt ist kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte,
-- ergriffen die Flucht, als sie Fleisch und Blut in le¬
bendiger Menschengestalt erblickten; nur die Gorgone
Medusa und der Geist Meleagers hielten Stand. Nach
jener wollte Herkules einen Schwertstreich führen, aber
Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die
Seelen der Abgeschiedenen leere Schattenbilder und vom
Schwerte nicht verwundbar seyen. Mit der Seele Me¬
leagers dagegen unterhielt sich der Halbgott freundlich,
und empfing von ihm sehnsüchtige Grüsse für die Ober¬
welt an seine geliebte Schwester Deianira. Ganz nahe
zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er seine
Freunde Theseus und Pirithous; der letzte hatte sich in
der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬
sephone eingefunden und beide waren wegen dieses fre¬
chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die
Ermüdeten sich niedergelassen hatten, gefesselt worden.
Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, streckten
sie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor
Hoffnung, durch seine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬
men zu können. Den Theseus ergriff auch Herkules
wirklich bei der Hand, befreite ihn von seinen Banden,
und richtete ihn vom Boden, an den er gefesselt gelegen

worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der
Unterwelt zu begegnen, ausgerüſtet, wanderte er in den
Peloponnes und nach der Lakoniſchen Stadt Tänarus,
wo ſich die Mündung der Unterwelt befand. Hier ſtieg
er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die
tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die
Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den
Thoren der Hadesſtadt traurig luſtwandelten — denn in
der Unterwelt iſt kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte,
— ergriffen die Flucht, als ſie Fleiſch und Blut in le¬
bendiger Menſchengeſtalt erblickten; nur die Gorgone
Meduſa und der Geiſt Meleagers hielten Stand. Nach
jener wollte Herkules einen Schwertſtreich führen, aber
Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die
Seelen der Abgeſchiedenen leere Schattenbilder und vom
Schwerte nicht verwundbar ſeyen. Mit der Seele Me¬
leagers dagegen unterhielt ſich der Halbgott freundlich,
und empfing von ihm ſehnſüchtige Grüſſe für die Ober¬
welt an ſeine geliebte Schweſter Deïanira. Ganz nahe
zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er ſeine
Freunde Theſeus und Pirithous; der letzte hatte ſich in
der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬
ſephone eingefunden und beide waren wegen dieſes fre¬
chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die
Ermüdeten ſich niedergelaſſen hatten, gefeſſelt worden.
Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, ſtreckten
ſie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor
Hoffnung, durch ſeine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬
men zu können. Den Theſeus ergriff auch Herkules
wirklich bei der Hand, befreite ihn von ſeinen Banden,
und richtete ihn vom Boden, an den er gefeſſelt gelegen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0262" n="236"/>
worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der<lb/>
Unterwelt zu begegnen, ausgerü&#x017F;tet, wanderte er in den<lb/>
Peloponnes und nach der Lakoni&#x017F;chen Stadt Tänarus,<lb/>
wo &#x017F;ich die Mündung der Unterwelt befand. Hier &#x017F;tieg<lb/>
er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die<lb/>
tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die<lb/>
Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den<lb/>
Thoren der Hades&#x017F;tadt traurig lu&#x017F;twandelten &#x2014; denn in<lb/>
der Unterwelt i&#x017F;t kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte,<lb/>
&#x2014; ergriffen die Flucht, als &#x017F;ie Flei&#x017F;ch und Blut in le¬<lb/>
bendiger Men&#x017F;chenge&#x017F;talt erblickten; nur die Gorgone<lb/>
Medu&#x017F;a und der Gei&#x017F;t Meleagers hielten Stand. Nach<lb/>
jener wollte Herkules einen Schwert&#x017F;treich führen, aber<lb/>
Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die<lb/>
Seelen der Abge&#x017F;chiedenen leere Schattenbilder und vom<lb/>
Schwerte nicht verwundbar &#x017F;eyen. Mit der Seele Me¬<lb/>
leagers dagegen unterhielt &#x017F;ich der Halbgott freundlich,<lb/>
und empfing von ihm &#x017F;ehn&#x017F;üchtige Grü&#x017F;&#x017F;e für die Ober¬<lb/>
welt an &#x017F;eine geliebte Schwe&#x017F;ter De<hi rendition="#aq">ï</hi>anira. Ganz nahe<lb/>
zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er &#x017F;eine<lb/>
Freunde The&#x017F;eus und Pirithous; der letzte hatte &#x017F;ich in<lb/>
der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬<lb/>
&#x017F;ephone eingefunden und beide waren wegen die&#x017F;es fre¬<lb/>
chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die<lb/>
Ermüdeten &#x017F;ich niedergela&#x017F;&#x017F;en hatten, gefe&#x017F;&#x017F;elt worden.<lb/>
Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, &#x017F;treckten<lb/>
&#x017F;ie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor<lb/>
Hoffnung, durch &#x017F;eine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬<lb/>
men zu können. Den The&#x017F;eus ergriff auch Herkules<lb/>
wirklich bei der Hand, befreite ihn von &#x017F;einen Banden,<lb/>
und richtete ihn vom Boden, an den er gefe&#x017F;&#x017F;elt gelegen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0262] worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der Unterwelt zu begegnen, ausgerüſtet, wanderte er in den Peloponnes und nach der Lakoniſchen Stadt Tänarus, wo ſich die Mündung der Unterwelt befand. Hier ſtieg er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den Thoren der Hadesſtadt traurig luſtwandelten — denn in der Unterwelt iſt kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte, — ergriffen die Flucht, als ſie Fleiſch und Blut in le¬ bendiger Menſchengeſtalt erblickten; nur die Gorgone Meduſa und der Geiſt Meleagers hielten Stand. Nach jener wollte Herkules einen Schwertſtreich führen, aber Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die Seelen der Abgeſchiedenen leere Schattenbilder und vom Schwerte nicht verwundbar ſeyen. Mit der Seele Me¬ leagers dagegen unterhielt ſich der Halbgott freundlich, und empfing von ihm ſehnſüchtige Grüſſe für die Ober¬ welt an ſeine geliebte Schweſter Deïanira. Ganz nahe zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er ſeine Freunde Theſeus und Pirithous; der letzte hatte ſich in der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬ ſephone eingefunden und beide waren wegen dieſes fre¬ chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die Ermüdeten ſich niedergelaſſen hatten, gefeſſelt worden. Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, ſtreckten ſie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor Hoffnung, durch ſeine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬ men zu können. Den Theſeus ergriff auch Herkules wirklich bei der Hand, befreite ihn von ſeinen Banden, und richtete ihn vom Boden, an den er gefeſſelt gelegen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/262
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/262>, abgerufen am 23.11.2024.