Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

der Stiefmutter, bereit gewesen, die Pflicht der natürli¬
chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu lassen;
und die Stiefmutter, die von natürlichem Hasse gegen
dasselbe erfüllt ist, muß, ohne es zu wissen, ihren Feind
vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur
ein paar Züge an Juno's Brust gethan: aber die weni¬
gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Unsterblich¬
keit einzuflößen.

Alkmene hatte indessen ihr Kind auf den ersten
Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber
auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Brust gelegen
und wie leichtsinnig sie den Augenblick der Rache vor¬
übergelassen habe. Sogleich schickte sie zwei entsetzliche
Schlangen aus, die, das Kind zu tödten bestimmt, durch
die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach geschli¬
chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und
die schlummernde Mutter selbst es inne wurden, sich an
der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben
zu umstricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem
Schrei und richtete seinen Kopf auf. Das ungewohnte
Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erste Probe
seiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange
am Genick und erstickte die beiden mit einem einzigen
Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt
wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt sie ferne.
Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit
bloßen Füßen sprang sie aus dem Bett und stürzte Hülfe
rufend auf die Schlangen zu, die sie schon von den Hän¬
den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die
Fürsten der Thebaner, durch den Hülferuf aufgeschreckt,
bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,

der Stiefmutter, bereit geweſen, die Pflicht der natürli¬
chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu laſſen;
und die Stiefmutter, die von natürlichem Haſſe gegen
daſſelbe erfüllt iſt, muß, ohne es zu wiſſen, ihren Feind
vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur
ein paar Züge an Juno's Bruſt gethan: aber die weni¬
gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Unſterblich¬
keit einzuflößen.

Alkmene hatte indeſſen ihr Kind auf den erſten
Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber
auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Bruſt gelegen
und wie leichtſinnig ſie den Augenblick der Rache vor¬
übergelaſſen habe. Sogleich ſchickte ſie zwei entſetzliche
Schlangen aus, die, das Kind zu tödten beſtimmt, durch
die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach geſchli¬
chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und
die ſchlummernde Mutter ſelbſt es inne wurden, ſich an
der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben
zu umſtricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem
Schrei und richtete ſeinen Kopf auf. Das ungewohnte
Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erſte Probe
ſeiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange
am Genick und erſtickte die beiden mit einem einzigen
Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt
wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt ſie ferne.
Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit
bloßen Füßen ſprang ſie aus dem Bett und ſtürzte Hülfe
rufend auf die Schlangen zu, die ſie ſchon von den Hän¬
den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die
Fürſten der Thebaner, durch den Hülferuf aufgeſchreckt,
bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0228" n="202"/>
der Stiefmutter, bereit gewe&#x017F;en, die Pflicht der natürli¬<lb/>
chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu la&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
und die Stiefmutter, die von natürlichem Ha&#x017F;&#x017F;e gegen<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe erfüllt i&#x017F;t, muß, ohne es zu wi&#x017F;&#x017F;en, ihren Feind<lb/>
vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur<lb/>
ein paar Züge an Juno's Bru&#x017F;t gethan: aber die weni¬<lb/>
gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Un&#x017F;terblich¬<lb/>
keit einzuflößen.</p><lb/>
            <p>Alkmene hatte inde&#x017F;&#x017F;en ihr Kind auf den er&#x017F;ten<lb/>
Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber<lb/>
auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Bru&#x017F;t gelegen<lb/>
und wie leicht&#x017F;innig &#x017F;ie den Augenblick der Rache vor¬<lb/>
übergela&#x017F;&#x017F;en habe. Sogleich &#x017F;chickte &#x017F;ie zwei ent&#x017F;etzliche<lb/>
Schlangen aus, die, das Kind zu tödten be&#x017F;timmt, durch<lb/>
die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach ge&#x017F;chli¬<lb/>
chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und<lb/>
die &#x017F;chlummernde Mutter &#x017F;elb&#x017F;t es inne wurden, &#x017F;ich an<lb/>
der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben<lb/>
zu um&#x017F;tricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem<lb/>
Schrei und richtete &#x017F;einen Kopf auf. Das ungewohnte<lb/>
Halsband war ihm unbequem. Da gab er die er&#x017F;te Probe<lb/>
&#x017F;einer Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange<lb/>
am Genick und er&#x017F;tickte die beiden mit einem einzigen<lb/>
Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt<lb/>
wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt &#x017F;ie ferne.<lb/>
Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit<lb/>
bloßen Füßen &#x017F;prang &#x017F;ie aus dem Bett und &#x017F;türzte Hülfe<lb/>
rufend auf die Schlangen zu, die &#x017F;ie &#x017F;chon von den Hän¬<lb/>
den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die<lb/>
Für&#x017F;ten der Thebaner, durch den Hülferuf aufge&#x017F;chreckt,<lb/>
bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0228] der Stiefmutter, bereit geweſen, die Pflicht der natürli¬ chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu laſſen; und die Stiefmutter, die von natürlichem Haſſe gegen daſſelbe erfüllt iſt, muß, ohne es zu wiſſen, ihren Feind vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur ein paar Züge an Juno's Bruſt gethan: aber die weni¬ gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Unſterblich¬ keit einzuflößen. Alkmene hatte indeſſen ihr Kind auf den erſten Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Bruſt gelegen und wie leichtſinnig ſie den Augenblick der Rache vor¬ übergelaſſen habe. Sogleich ſchickte ſie zwei entſetzliche Schlangen aus, die, das Kind zu tödten beſtimmt, durch die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach geſchli¬ chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und die ſchlummernde Mutter ſelbſt es inne wurden, ſich an der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben zu umſtricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem Schrei und richtete ſeinen Kopf auf. Das ungewohnte Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erſte Probe ſeiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erſtickte die beiden mit einem einzigen Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt ſie ferne. Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit bloßen Füßen ſprang ſie aus dem Bett und ſtürzte Hülfe rufend auf die Schlangen zu, die ſie ſchon von den Hän¬ den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die Fürſten der Thebaner, durch den Hülferuf aufgeſchreckt, bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/228
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/228>, abgerufen am 24.11.2024.