anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals, und ein Blutstrahl schoß wie ein Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der letzte und jüngste Sohn, der Knabe Ilioneus, der dieß Alles mit angesehen hatte, warf sich auf die Kniee nie¬ der, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: "O all ihr Götter mit einander, verschonet mich!" Der furchtbare Bogenschütze selbst wurde gerührt, aber der Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe sank zusammen. Doch fiel er an der leichtesten Wunde, die kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.
Der Ruf des Unglückes verbreitete sich bald in die Stadt. Amphion der Vater, als er die Schreckenskunde hörte, durchbohrte sich die Brust mit dem Stahl. Der laute Jammer seiner Diener und alles Volkes drang bald auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das Schreckliche nicht zu fassen; sie wollte nicht glauben, daß die Himmlischen so viel Vorrechte hatten, daß sie es wag¬ ten, daß sie es vermöchten. Aber bald konnte sie nicht mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe der vorigen, die eben erst das Volk von den Altären der mächtigen Göttin zurückscheuchte und mit hohem Nacken durch die Stadt einherschritt! Jene erschien auch ihren liebsten Freunden beneidenswerth, diese des Mitleids wür¬ dig selbst dem Feinde! Sie kam herausgestürzt auf das Feld, sie warf sich auf die erkalteten Leichname, sie ver¬ theilte ihre letzten Küsse an die Söhne, bald an diesen, bald an jenen. Dann hub sie die zerschlagenen Arme gen Himmel und rief: "Weide dich nun an meinem Jammer, sättige dein grimmiges Herz, du grausame La¬
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anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals, und ein Blutſtrahl ſchoß wie ein Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der letzte und jüngſte Sohn, der Knabe Ilioneus, der dieß Alles mit angeſehen hatte, warf ſich auf die Kniee nie¬ der, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: „O all ihr Götter mit einander, verſchonet mich!“ Der furchtbare Bogenſchütze ſelbſt wurde gerührt, aber der Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe ſank zuſammen. Doch fiel er an der leichteſten Wunde, die kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.
Der Ruf des Unglückes verbreitete ſich bald in die Stadt. Amphion der Vater, als er die Schreckenskunde hörte, durchbohrte ſich die Bruſt mit dem Stahl. Der laute Jammer ſeiner Diener und alles Volkes drang bald auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das Schreckliche nicht zu faſſen; ſie wollte nicht glauben, daß die Himmliſchen ſo viel Vorrechte hatten, daß ſie es wag¬ ten, daß ſie es vermöchten. Aber bald konnte ſie nicht mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe der vorigen, die eben erſt das Volk von den Altären der mächtigen Göttin zurückſcheuchte und mit hohem Nacken durch die Stadt einherſchritt! Jene erſchien auch ihren liebſten Freunden beneidenswerth, dieſe des Mitleids wür¬ dig ſelbſt dem Feinde! Sie kam herausgeſtürzt auf das Feld, ſie warf ſich auf die erkalteten Leichname, ſie ver¬ theilte ihre letzten Küſſe an die Söhne, bald an dieſen, bald an jenen. Dann hub ſie die zerſchlagenen Arme gen Himmel und rief: „Weide dich nun an meinem Jammer, ſättige dein grimmiges Herz, du grauſame La¬
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anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund
hinab in den Hals, und ein Blutſtrahl ſchoß wie ein
Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der
letzte und jüngſte Sohn, der Knabe Ilioneus, der dieß
Alles mit angeſehen hatte, warf ſich auf die Kniee nie¬
der, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: „O
all ihr Götter mit einander, verſchonet mich!“ Der
furchtbare Bogenſchütze ſelbſt wurde gerührt, aber der
Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe ſank
zuſammen. Doch fiel er an der leichteſten Wunde, die
kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.
Der Ruf des Unglückes verbreitete ſich bald in die
Stadt. Amphion der Vater, als er die Schreckenskunde
hörte, durchbohrte ſich die Bruſt mit dem Stahl. Der
laute Jammer ſeiner Diener und alles Volkes drang bald
auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das
Schreckliche nicht zu faſſen; ſie wollte nicht glauben, daß
die Himmliſchen ſo viel Vorrechte hatten, daß ſie es wag¬
ten, daß ſie es vermöchten. Aber bald konnte ſie nicht
mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe
der vorigen, die eben erſt das Volk von den Altären der
mächtigen Göttin zurückſcheuchte und mit hohem Nacken
durch die Stadt einherſchritt! Jene erſchien auch ihren
liebſten Freunden beneidenswerth, dieſe des Mitleids wür¬
dig ſelbſt dem Feinde! Sie kam herausgeſtürzt auf das
Feld, ſie warf ſich auf die erkalteten Leichname, ſie ver¬
theilte ihre letzten Küſſe an die Söhne, bald an dieſen,
bald an jenen. Dann hub ſie die zerſchlagenen Arme
gen Himmel und rief: „Weide dich nun an meinem
Jammer, ſättige dein grimmiges Herz, du grauſame La¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/221>, abgerufen am 28.11.2024.
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