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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er stand
mitten in einem Teiche und die Wasser spielten ihm um
das Kinn, dennoch litt er den brennendsten Durst und
konnte den Trank, der ihm so nahe war, niemals er¬
reichen. So oft er sich bückte, und den Mund gierig
ans Wasser bringen wollte, entschwand vor ihm die
Fluth versiegend, der dunkle Boden erschien zu seinen
Füßen; ein Dämon schien den See ausgetrocknet zu ha¬
ben. So litt er zugleich den peinigendsten Hunger. Hin¬
ter ihm strebten am Ufer des Teiches herrliche Frucht¬
bäume empor, und wölbten ihre Aeste über seinem Haupte.
Wenn er sich emporrichtete, so lachten ihm saftige Bir¬
nen, rothwangige Aepfel, glühende Granaten, liebliche
Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber sobald
er hinauf langte, sie mit seiner Hand zu fassen, so riß
ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige
hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieser Höllenpein ge¬
sellte sich beständige Todesangst, denn ein großes Fel¬
senstück hing über seinem Haupte in der Luft und drohte
unaufhörlich auf ihn herabzustürzen. So ward dem Ver¬
ächter der Götter, dem ruchlosen Tantalus, dreifache
Qual, niemals endend, in der Unterwelt beschieden.


Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er ſtand
mitten in einem Teiche und die Waſſer ſpielten ihm um
das Kinn, dennoch litt er den brennendſten Durſt und
konnte den Trank, der ihm ſo nahe war, niemals er¬
reichen. So oft er ſich bückte, und den Mund gierig
ans Waſſer bringen wollte, entſchwand vor ihm die
Fluth verſiegend, der dunkle Boden erſchien zu ſeinen
Füßen; ein Dämon ſchien den See ausgetrocknet zu ha¬
ben. So litt er zugleich den peinigendſten Hunger. Hin¬
ter ihm ſtrebten am Ufer des Teiches herrliche Frucht¬
bäume empor, und wölbten ihre Aeſte über ſeinem Haupte.
Wenn er ſich emporrichtete, ſo lachten ihm ſaftige Bir¬
nen, rothwangige Aepfel, glühende Granaten, liebliche
Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber ſobald
er hinauf langte, ſie mit ſeiner Hand zu faſſen, ſo riß
ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige
hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieſer Höllenpein ge¬
ſellte ſich beſtändige Todesangſt, denn ein großes Fel¬
ſenſtück hing über ſeinem Haupte in der Luft und drohte
unaufhörlich auf ihn herabzuſtürzen. So ward dem Ver¬
ächter der Götter, dem ruchloſen Tantalus, dreifache
Qual, niemals endend, in der Unterwelt beſchieden.


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[186/0212] Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er ſtand mitten in einem Teiche und die Waſſer ſpielten ihm um das Kinn, dennoch litt er den brennendſten Durſt und konnte den Trank, der ihm ſo nahe war, niemals er¬ reichen. So oft er ſich bückte, und den Mund gierig ans Waſſer bringen wollte, entſchwand vor ihm die Fluth verſiegend, der dunkle Boden erſchien zu ſeinen Füßen; ein Dämon ſchien den See ausgetrocknet zu ha¬ ben. So litt er zugleich den peinigendſten Hunger. Hin¬ ter ihm ſtrebten am Ufer des Teiches herrliche Frucht¬ bäume empor, und wölbten ihre Aeſte über ſeinem Haupte. Wenn er ſich emporrichtete, ſo lachten ihm ſaftige Bir¬ nen, rothwangige Aepfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber ſobald er hinauf langte, ſie mit ſeiner Hand zu faſſen, ſo riß ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieſer Höllenpein ge¬ ſellte ſich beſtändige Todesangſt, denn ein großes Fel¬ ſenſtück hing über ſeinem Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich auf ihn herabzuſtürzen. So ward dem Ver¬ ächter der Götter, dem ruchloſen Tantalus, dreifache Qual, niemals endend, in der Unterwelt beſchieden.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/212>, abgerufen am 24.11.2024.