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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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haßten Tochter Glauce beschwor. "Geh," erwiederte er,
"und befreie mich von Sorgen!" Da bat sie nur um ei¬
nen einzigen Tag Aufschub, um einen Weg zur Flucht
und ein Asyl für ihre Kinder wählen zu können. "Meine
Seele ist nicht tyrannisch," sprach da der König, "schon
viel thörichte Nachgiebigkeit habe ich aus falscher Scheu
geübt. Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weise handle,
dennoch sey es dir gestattet, Weib."

Als Medea die gewünschte Frist erhalten hatte, be¬
mächtigte sich ihrer der Wahnsinn und sie schritt zur Voll¬
führung einer That, die ihr wohl bisher dunkel im Geiste
vorgeschwebt, an deren Möglichkeit sie jedoch selbst nicht ge¬
glaubt hatte. Dennoch machte sie vorher einen letzten Versuch,
ihren Gatten von seinem Unrecht und seinem Frevel zu über¬
zeugen. Sie trat vor ihn und sprach zu ihm: "O du schlimmster
aller Männer, du hast mich verrathen, hast einen neuen
Ehebund eingegangen, während du doch Kinder hast. Wä¬
rest du kinderlos, so wollte ich dir verzeihen; du hättest
eine Ausrede. So bist du unentschuldbar; ich weiß nicht,
meinst du, die Götter, die damals herrschten, als du mir
Treue versprachest, regieren nicht mehr, oder es seyen
den Menschen neue Gesetze für ihre Handlungen gegeben
worden, daß du glaubst meineidig werden zu dürfen?
Sage mir, ich will dich fragen, als wenn du mein Freund
wärest: wohin räthst du mir zu gehen? Schickst du mich
zurück in meines Vaters Haus, den ich verrathen,
dem ich den Sohn getödtet habe, dir zu lieb? Oder
welche andere Zuflucht weißest du für mich? Für¬
wahr, es wird ein herrlicher Ruhm für dich, den Neu¬
vermählten, seyn, wenn deine erste Gattin mit deinen ei¬
genen Söhnen in der Welt betteln geht!" Doch Jason

haßten Tochter Glauce beſchwor. „Geh,“ erwiederte er,
„und befreie mich von Sorgen!“ Da bat ſie nur um ei¬
nen einzigen Tag Aufſchub, um einen Weg zur Flucht
und ein Aſyl für ihre Kinder wählen zu können. „Meine
Seele iſt nicht tyranniſch,“ ſprach da der König, „ſchon
viel thörichte Nachgiebigkeit habe ich aus falſcher Scheu
geübt. Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weiſe handle,
dennoch ſey es dir geſtattet, Weib.“

Als Medea die gewünſchte Friſt erhalten hatte, be¬
mächtigte ſich ihrer der Wahnſinn und ſie ſchritt zur Voll¬
führung einer That, die ihr wohl bisher dunkel im Geiſte
vorgeſchwebt, an deren Möglichkeit ſie jedoch ſelbſt nicht ge¬
glaubt hatte. Dennoch machte ſie vorher einen letzten Verſuch,
ihren Gatten von ſeinem Unrecht und ſeinem Frevel zu über¬
zeugen. Sie trat vor ihn und ſprach zu ihm: „O du ſchlimmſter
aller Männer, du haſt mich verrathen, haſt einen neuen
Ehebund eingegangen, während du doch Kinder haſt. Wä¬
reſt du kinderlos, ſo wollte ich dir verzeihen; du hätteſt
eine Ausrede. So biſt du unentſchuldbar; ich weiß nicht,
meinſt du, die Götter, die damals herrſchten, als du mir
Treue verſpracheſt, regieren nicht mehr, oder es ſeyen
den Menſchen neue Geſetze für ihre Handlungen gegeben
worden, daß du glaubſt meineidig werden zu dürfen?
Sage mir, ich will dich fragen, als wenn du mein Freund
wäreſt: wohin räthſt du mir zu gehen? Schickſt du mich
zurück in meines Vaters Haus, den ich verrathen,
dem ich den Sohn getödtet habe, dir zu lieb? Oder
welche andere Zuflucht weißeſt du für mich? Für¬
wahr, es wird ein herrlicher Ruhm für dich, den Neu¬
vermählten, ſeyn, wenn deine erſte Gattin mit deinen ei¬
genen Söhnen in der Welt betteln geht!“ Doch Jaſon

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[172/0198] haßten Tochter Glauce beſchwor. „Geh,“ erwiederte er, „und befreie mich von Sorgen!“ Da bat ſie nur um ei¬ nen einzigen Tag Aufſchub, um einen Weg zur Flucht und ein Aſyl für ihre Kinder wählen zu können. „Meine Seele iſt nicht tyranniſch,“ ſprach da der König, „ſchon viel thörichte Nachgiebigkeit habe ich aus falſcher Scheu geübt. Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weiſe handle, dennoch ſey es dir geſtattet, Weib.“ Als Medea die gewünſchte Friſt erhalten hatte, be¬ mächtigte ſich ihrer der Wahnſinn und ſie ſchritt zur Voll¬ führung einer That, die ihr wohl bisher dunkel im Geiſte vorgeſchwebt, an deren Möglichkeit ſie jedoch ſelbſt nicht ge¬ glaubt hatte. Dennoch machte ſie vorher einen letzten Verſuch, ihren Gatten von ſeinem Unrecht und ſeinem Frevel zu über¬ zeugen. Sie trat vor ihn und ſprach zu ihm: „O du ſchlimmſter aller Männer, du haſt mich verrathen, haſt einen neuen Ehebund eingegangen, während du doch Kinder haſt. Wä¬ reſt du kinderlos, ſo wollte ich dir verzeihen; du hätteſt eine Ausrede. So biſt du unentſchuldbar; ich weiß nicht, meinſt du, die Götter, die damals herrſchten, als du mir Treue verſpracheſt, regieren nicht mehr, oder es ſeyen den Menſchen neue Geſetze für ihre Handlungen gegeben worden, daß du glaubſt meineidig werden zu dürfen? Sage mir, ich will dich fragen, als wenn du mein Freund wäreſt: wohin räthſt du mir zu gehen? Schickſt du mich zurück in meines Vaters Haus, den ich verrathen, dem ich den Sohn getödtet habe, dir zu lieb? Oder welche andere Zuflucht weißeſt du für mich? Für¬ wahr, es wird ein herrlicher Ruhm für dich, den Neu¬ vermählten, ſeyn, wenn deine erſte Gattin mit deinen ei¬ genen Söhnen in der Welt betteln geht!“ Doch Jaſon

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/198>, abgerufen am 22.11.2024.