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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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del, und sie brach in die Worte aus: "Chalciope, das
Morgenroth soll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn
dein und deiner Söhne Leben nicht mein erstes ist. Hast
du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich
mit ihnen gesäugt, als ich ein kleines Kind war; so
liebe ich dich nicht nur wie eine Schwester, sondern auch
wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum
Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die
Zaubermittel holen, welche die Stiere besänftigen sollen."
Chalciope verließ das Gemach der Schwester und mel¬
dete den Söhnen die erwünschte Botschaft.

Die ganze Nacht lag Medea in schwerem Streite
mit sich selbst. "Habe ich nicht zu viel versprochen," sagte
sie in ihrem Innern, "darf ich so viel für den Fremdling
thun? Ihn ohne Zeugen schauen, ihn anrühren, was doch
geschehen muß, wenn der Trug gelingen soll? Ja, ich
will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber
an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬
ben wird, will ich sterben. Ein Strick oder Gift soll
mich vom verhaßten Leben befreien. -- Aber wird mich
dieses retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze
Kolchierland verfolgen und sagen, daß ich mein Haus
beschimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb
gestorben sey?" Unter solchen Gedanken ging sie, ein
Kästchen zu holen, in welchem heil- und todbringende
Arzeneien sich befanden. Sie stellte es auf ihre Kniee
und hatte es schon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬
ten zu kosten; da schwebten ihr alle holden Lebenssorgen
vor, alle Lebensfreuden, alle Gespielinnen; die Sonne
kam ihr schöner vor, als vorher, eine unwiderstehliche
Furcht vor dem Tode ergriff sie; sie stellte das Kästchen

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del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das
Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn
dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt
du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich
mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo
liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch
wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum
Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die
Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“
Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬
dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.

Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite
mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ ſagte
ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling
thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch
geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich
will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber
an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬
ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll
mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich
dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze
Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus
beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb
geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein
Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende
Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee
und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬
ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen
vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne
kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche
Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen

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[131/0157] del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“ Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬ dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft. Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ ſagte ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬ ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬ ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen 9 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/157>, abgerufen am 24.11.2024.