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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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lassen, oder ihre Kräfte vorher auf die Probe setzen.
Nach einigem Besinnen däuchte ihm das Letztere besser
und er erwiederte ruhiger, als zuvor: "Was braucht es
der ängstlichen Worte, Fremdling? Seyd ihr wirklich Göt¬
tersöhne, oder sonst nicht schlechter als ich, und habt Lust
nach fremdem Gute, so mögt ihr das goldne Vließ mit
euch fortnehmen, denn tapfern Männern gönne ich Alles.
Aber vorher müßt ihr mir eine Probe geben und eine
Arbeit verrichten, die ich selbst sonst zu thun pflege, so
gefährlich sie ist. Es weiden mir auf dem Felde des
Mars zwei Stiere mit ehernen Füßen, die Flammen
speien. Mit diesen durchpflüge ich das rauhe Feld, und
wenn ich alles umgeackert, so säe ich in die Furchen,
nicht der Ceres gelbes Korn, sondern die gräßlichen Zähne
eines Drachen; daraus wachsen mir Männer hervor, die
mich von allen Seiten umringen und die ich mit meiner
Lanze Alle erlege. Mit dem frühen Morgen schirre ich
die Stiere an, am späten Abend ruhe ich von der Ernte.
Wenn du das Gleiche vollbracht hast, o Führer, so magst du
noch am selben Tage das Vließ mit dir fortnehmen nach
deines Königes Haus; eher aber nicht, denn es ist nicht
billig, daß der tapfere Mann dem schlechteren weiche."
Jason saß bei diesen Reden stumm und unschlüssig da,
er wagte es nicht, ein so furchtbares Werk kecklich zu
versprechen. Indessen faßte er sich und antwortete: "So
groß diese Arbeit ist, so will ich sie doch bestehen, o Kö¬
nig, und wenn ich darüber umkommen sollte. Schlim¬
meres als der Tod kann auf einen Sterblichen doch nicht
warten, ich gehorche der Nothwendigkeit, die mich hierher
gesendet hat." "Gut," sprach der König, "geh jetzt zu

laſſen, oder ihre Kräfte vorher auf die Probe ſetzen.
Nach einigem Beſinnen däuchte ihm das Letztere beſſer
und er erwiederte ruhiger, als zuvor: „Was braucht es
der ängſtlichen Worte, Fremdling? Seyd ihr wirklich Göt¬
terſöhne, oder ſonſt nicht ſchlechter als ich, und habt Luſt
nach fremdem Gute, ſo mögt ihr das goldne Vließ mit
euch fortnehmen, denn tapfern Männern gönne ich Alles.
Aber vorher müßt ihr mir eine Probe geben und eine
Arbeit verrichten, die ich ſelbſt ſonſt zu thun pflege, ſo
gefährlich ſie iſt. Es weiden mir auf dem Felde des
Mars zwei Stiere mit ehernen Füßen, die Flammen
ſpeien. Mit dieſen durchpflüge ich das rauhe Feld, und
wenn ich alles umgeackert, ſo ſäe ich in die Furchen,
nicht der Ceres gelbes Korn, ſondern die gräßlichen Zähne
eines Drachen; daraus wachſen mir Männer hervor, die
mich von allen Seiten umringen und die ich mit meiner
Lanze Alle erlege. Mit dem frühen Morgen ſchirre ich
die Stiere an, am ſpäten Abend ruhe ich von der Ernte.
Wenn du das Gleiche vollbracht haſt, o Führer, ſo magſt du
noch am ſelben Tage das Vließ mit dir fortnehmen nach
deines Königes Haus; eher aber nicht, denn es iſt nicht
billig, daß der tapfere Mann dem ſchlechteren weiche.“
Jaſon ſaß bei dieſen Reden ſtumm und unſchlüſſig da,
er wagte es nicht, ein ſo furchtbares Werk kecklich zu
verſprechen. Indeſſen faßte er ſich und antwortete: „So
groß dieſe Arbeit iſt, ſo will ich ſie doch beſtehen, o Kö¬
nig, und wenn ich darüber umkommen ſollte. Schlim¬
meres als der Tod kann auf einen Sterblichen doch nicht
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[125/0151] laſſen, oder ihre Kräfte vorher auf die Probe ſetzen. Nach einigem Beſinnen däuchte ihm das Letztere beſſer und er erwiederte ruhiger, als zuvor: „Was braucht es der ängſtlichen Worte, Fremdling? Seyd ihr wirklich Göt¬ terſöhne, oder ſonſt nicht ſchlechter als ich, und habt Luſt nach fremdem Gute, ſo mögt ihr das goldne Vließ mit euch fortnehmen, denn tapfern Männern gönne ich Alles. Aber vorher müßt ihr mir eine Probe geben und eine Arbeit verrichten, die ich ſelbſt ſonſt zu thun pflege, ſo gefährlich ſie iſt. Es weiden mir auf dem Felde des Mars zwei Stiere mit ehernen Füßen, die Flammen ſpeien. Mit dieſen durchpflüge ich das rauhe Feld, und wenn ich alles umgeackert, ſo ſäe ich in die Furchen, nicht der Ceres gelbes Korn, ſondern die gräßlichen Zähne eines Drachen; daraus wachſen mir Männer hervor, die mich von allen Seiten umringen und die ich mit meiner Lanze Alle erlege. Mit dem frühen Morgen ſchirre ich die Stiere an, am ſpäten Abend ruhe ich von der Ernte. Wenn du das Gleiche vollbracht haſt, o Führer, ſo magſt du noch am ſelben Tage das Vließ mit dir fortnehmen nach deines Königes Haus; eher aber nicht, denn es iſt nicht billig, daß der tapfere Mann dem ſchlechteren weiche.“ Jaſon ſaß bei dieſen Reden ſtumm und unſchlüſſig da, er wagte es nicht, ein ſo furchtbares Werk kecklich zu verſprechen. Indeſſen faßte er ſich und antwortete: „So groß dieſe Arbeit iſt, ſo will ich ſie doch beſtehen, o Kö¬ nig, und wenn ich darüber umkommen ſollte. Schlim¬ meres als der Tod kann auf einen Sterblichen doch nicht warten, ich gehorche der Nothwendigkeit, die mich hierher geſendet hat.“ „Gut,“ ſprach der König, „geh jetzt zu

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/151>, abgerufen am 27.11.2024.