Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

len, ohne ihnen zu schaden; die Vögel selbst flogen weit
übers Meer den jenseitigen Ufern zu. Die Argonauten
landeten auf dieser Insel nach dem Rathe des wahrsa¬
genden Königes Phineus.

Sie sollten hier Freunde und Begleiter finden, die
sie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten sie die ersten
Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im
armseligsten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten.
Einer von diesen eilte den nahenden Helden entgegen und
redete sie an. "Wer ihr auch seyd, gute Männer,"
sprach er, "kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬
let uns Kleider mit, unsre Blösse zu bedecken und Spei¬
sen, unsern Hunger zu stillen!" Jason versprach ihnen
freundlich alle Hülfe und erkundigte sich nach ihrem Na¬
men und Geschlecht. "Ihr habt wohl von Phrixus ge¬
hört, dem Sohne des Athamas," erwiederte der Jüng¬
ling, "der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat?
Der König Aeetes hat ihm seine ältere Tochter zur Ehe
gegeben, wir sind seine Söhne und ich heiße Argos.
Unser Vater Phrixus ist vor kurzem gestorben, und nach
seinem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe gesetzt,
die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelassen,
abzuholen!" Die Helden waren hocherfreut und Jason
begrüßte sie als Vettern, denn die Großväter Athamas
und Kretheus waren Brüder gewesen. Die Jünglinge
erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme
zerbrochen sey, und ein Brett sie an diese unwirthliche
Insel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr
Vorhaben mittheilten und sie zur Theilnahme an dem
Abentheuer aufforderten, da verbargen sie ihr Entsetzen
nicht. "Unser Großvater Aeetes ist ein grausamer Mann,

len, ohne ihnen zu ſchaden; die Vögel ſelbſt flogen weit
übers Meer den jenſeitigen Ufern zu. Die Argonauten
landeten auf dieſer Inſel nach dem Rathe des wahrſa¬
genden Königes Phineus.

Sie ſollten hier Freunde und Begleiter finden, die
ſie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten ſie die erſten
Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im
armſeligſten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten.
Einer von dieſen eilte den nahenden Helden entgegen und
redete ſie an. „Wer ihr auch ſeyd, gute Männer,“
ſprach er, „kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬
let uns Kleider mit, unſre Blöſſe zu bedecken und Spei¬
ſen, unſern Hunger zu ſtillen!“ Jaſon verſprach ihnen
freundlich alle Hülfe und erkundigte ſich nach ihrem Na¬
men und Geſchlecht. „Ihr habt wohl von Phrixus ge¬
hört, dem Sohne des Athamas,“ erwiederte der Jüng¬
ling, „der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat?
Der König Aeetes hat ihm ſeine ältere Tochter zur Ehe
gegeben, wir ſind ſeine Söhne und ich heiße Argos.
Unſer Vater Phrixus iſt vor kurzem geſtorben, und nach
ſeinem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe geſetzt,
die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelaſſen,
abzuholen!“ Die Helden waren hocherfreut und Jaſon
begrüßte ſie als Vettern, denn die Großväter Athamas
und Kretheus waren Brüder geweſen. Die Jünglinge
erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme
zerbrochen ſey, und ein Brett ſie an dieſe unwirthliche
Inſel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr
Vorhaben mittheilten und ſie zur Theilnahme an dem
Abentheuer aufforderten, da verbargen ſie ihr Entſetzen
nicht. „Unſer Großvater Aeetes iſt ein grauſamer Mann,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0143" n="117"/>
len, ohne ihnen zu &#x017F;chaden; die Vögel &#x017F;elb&#x017F;t flogen weit<lb/>
übers Meer den jen&#x017F;eitigen Ufern zu. Die Argonauten<lb/>
landeten auf die&#x017F;er In&#x017F;el nach dem Rathe des wahr&#x017F;<lb/>
genden Königes Phineus.</p><lb/>
            <p>Sie &#x017F;ollten hier Freunde und Begleiter finden, die<lb/>
&#x017F;ie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten &#x017F;ie die er&#x017F;ten<lb/>
Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im<lb/>
arm&#x017F;elig&#x017F;ten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten.<lb/>
Einer von die&#x017F;en eilte den nahenden Helden entgegen und<lb/>
redete &#x017F;ie an. &#x201E;Wer ihr auch &#x017F;eyd, gute Männer,&#x201C;<lb/>
&#x017F;prach er, &#x201E;kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬<lb/>
let uns Kleider mit, un&#x017F;re Blö&#x017F;&#x017F;e zu bedecken und Spei¬<lb/>
&#x017F;en, un&#x017F;ern Hunger zu &#x017F;tillen!&#x201C; Ja&#x017F;on ver&#x017F;prach ihnen<lb/>
freundlich alle Hülfe und erkundigte &#x017F;ich nach ihrem Na¬<lb/>
men und Ge&#x017F;chlecht. &#x201E;Ihr habt wohl von Phrixus ge¬<lb/>
hört, dem Sohne des Athamas,&#x201C; erwiederte der Jüng¬<lb/>
ling, &#x201E;der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat?<lb/>
Der König Aeetes hat ihm &#x017F;eine ältere Tochter zur Ehe<lb/>
gegeben, wir &#x017F;ind &#x017F;eine Söhne und ich heiße Argos.<lb/>
Un&#x017F;er Vater Phrixus i&#x017F;t vor kurzem ge&#x017F;torben, und nach<lb/>
&#x017F;einem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe ge&#x017F;etzt,<lb/>
die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gela&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
abzuholen!&#x201C; Die Helden waren hocherfreut und Ja&#x017F;on<lb/>
begrüßte &#x017F;ie als Vettern, denn die Großväter Athamas<lb/>
und Kretheus waren Brüder gewe&#x017F;en. Die Jünglinge<lb/>
erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme<lb/>
zerbrochen &#x017F;ey, und ein Brett &#x017F;ie an die&#x017F;e unwirthliche<lb/>
In&#x017F;el getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr<lb/>
Vorhaben mittheilten und &#x017F;ie zur Theilnahme an dem<lb/>
Abentheuer aufforderten, da verbargen &#x017F;ie ihr Ent&#x017F;etzen<lb/>
nicht. &#x201E;Un&#x017F;er Großvater Aeetes i&#x017F;t ein grau&#x017F;amer Mann,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0143] len, ohne ihnen zu ſchaden; die Vögel ſelbſt flogen weit übers Meer den jenſeitigen Ufern zu. Die Argonauten landeten auf dieſer Inſel nach dem Rathe des wahrſa¬ genden Königes Phineus. Sie ſollten hier Freunde und Begleiter finden, die ſie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten ſie die erſten Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im armſeligſten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten. Einer von dieſen eilte den nahenden Helden entgegen und redete ſie an. „Wer ihr auch ſeyd, gute Männer,“ ſprach er, „kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬ let uns Kleider mit, unſre Blöſſe zu bedecken und Spei¬ ſen, unſern Hunger zu ſtillen!“ Jaſon verſprach ihnen freundlich alle Hülfe und erkundigte ſich nach ihrem Na¬ men und Geſchlecht. „Ihr habt wohl von Phrixus ge¬ hört, dem Sohne des Athamas,“ erwiederte der Jüng¬ ling, „der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat? Der König Aeetes hat ihm ſeine ältere Tochter zur Ehe gegeben, wir ſind ſeine Söhne und ich heiße Argos. Unſer Vater Phrixus iſt vor kurzem geſtorben, und nach ſeinem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe geſetzt, die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelaſſen, abzuholen!“ Die Helden waren hocherfreut und Jaſon begrüßte ſie als Vettern, denn die Großväter Athamas und Kretheus waren Brüder geweſen. Die Jünglinge erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme zerbrochen ſey, und ein Brett ſie an dieſe unwirthliche Inſel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr Vorhaben mittheilten und ſie zur Theilnahme an dem Abentheuer aufforderten, da verbargen ſie ihr Entſetzen nicht. „Unſer Großvater Aeetes iſt ein grauſamer Mann,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/143
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/143>, abgerufen am 03.05.2024.