Versammlung das friedliche Ansinnen der Argonauten vorgelegt, sprach sie aufgerichtet: "Liebe Schwestern, wir haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬ heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde, wenn sie sich, uns darbieten, nicht zurückstoßen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß sie nichts von unserer Unthat erfahren. Darum ist mein Rath, den Fremden Speise, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu lassen, und durch solche Bereitwilligkeit sie ferne von un¬ sern Mauern zu halten."
Die Königin hatte sich wieder niedergesetzt und da¬ gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete sie ihren Kopf aus den Schultern auf und sprach: "Sendet immerhin den Fremdlingen Geschenke: dieß ist wohlge¬ than. Denket aber auch daran, was euch bevorsteht, wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger Gott diese ferne hält, seyd ihr darum vor allem Uebel sicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig seyn, wir werden sterben, ehe die Noth dringend wird, ehe alle unsere Vorräthe zu Ende sind. Ihr Jüngeren aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden sich die Ochsen für euch von selbst ins Joch spannen und den Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden sie an eurer Statt, wenn das Jahr herum ist, die reifen Aehren ab¬ schneiden? denn ihr selbst werdet diese und andere harte Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch, weiset den erwünschten Schutz nicht ab, der sich euch dar¬ bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬ lingen an, und laßt sie eure schöne Stadt verwalten!" Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl. Die Königin schickte eine der beisitzenden Jungfrauen mit
Schwab, das klass. Alterthum. I. 7
Verſammlung das friedliche Anſinnen der Argonauten vorgelegt, ſprach ſie aufgerichtet: „Liebe Schweſtern, wir haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬ heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde, wenn ſie ſich, uns darbieten, nicht zurückſtoßen. Aber wir müſſen auch dafür ſorgen, daß ſie nichts von unſerer Unthat erfahren. Darum iſt mein Rath, den Fremden Speiſe, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu laſſen, und durch ſolche Bereitwilligkeit ſie ferne von un¬ ſern Mauern zu halten.“
Die Königin hatte ſich wieder niedergeſetzt und da¬ gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete ſie ihren Kopf aus den Schultern auf und ſprach: „Sendet immerhin den Fremdlingen Geſchenke: dieß iſt wohlge¬ than. Denket aber auch daran, was euch bevorſteht, wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger Gott dieſe ferne hält, ſeyd ihr darum vor allem Uebel ſicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig ſeyn, wir werden ſterben, ehe die Noth dringend wird, ehe alle unſere Vorräthe zu Ende ſind. Ihr Jüngeren aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden ſich die Ochſen für euch von ſelbſt ins Joch ſpannen und den Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden ſie an eurer Statt, wenn das Jahr herum iſt, die reifen Aehren ab¬ ſchneiden? denn ihr ſelbſt werdet dieſe und andere harte Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch, weiſet den erwünſchten Schutz nicht ab, der ſich euch dar¬ bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬ lingen an, und laßt ſie eure ſchöne Stadt verwalten!“ Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl. Die Königin ſchickte eine der beiſitzenden Jungfrauen mit
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 7
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0123"n="97"/>
Verſammlung das friedliche Anſinnen der Argonauten<lb/>
vorgelegt, ſprach ſie aufgerichtet: „Liebe Schweſtern, wir<lb/>
haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬<lb/>
heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde,<lb/>
wenn ſie ſich, uns darbieten, nicht zurückſtoßen. Aber wir<lb/>
müſſen auch dafür ſorgen, daß ſie nichts von unſerer<lb/>
Unthat erfahren. Darum iſt mein Rath, den Fremden<lb/>
Speiſe, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu<lb/>
laſſen, und durch ſolche Bereitwilligkeit ſie ferne von un¬<lb/>ſern Mauern zu halten.“</p><lb/><p>Die Königin hatte ſich wieder niedergeſetzt und da¬<lb/>
gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete ſie<lb/>
ihren Kopf aus den Schultern auf und ſprach: „Sendet<lb/>
immerhin den Fremdlingen Geſchenke: dieß iſt wohlge¬<lb/>
than. Denket aber auch daran, was euch bevorſteht,<lb/>
wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger<lb/>
Gott dieſe ferne hält, ſeyd ihr darum vor allem Uebel<lb/>ſicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig<lb/>ſeyn, wir werden ſterben, ehe die Noth dringend wird,<lb/>
ehe alle unſere Vorräthe zu Ende ſind. Ihr Jüngeren<lb/>
aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden ſich die<lb/>
Ochſen für euch von ſelbſt ins Joch ſpannen und den<lb/>
Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden ſie an eurer<lb/>
Statt, wenn das Jahr herum iſt, die reifen Aehren ab¬<lb/>ſchneiden? denn ihr ſelbſt werdet dieſe und andere harte<lb/>
Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch,<lb/>
weiſet den erwünſchten Schutz nicht ab, der ſich euch dar¬<lb/>
bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬<lb/>
lingen an, und laßt ſie eure ſchöne Stadt verwalten!“<lb/>
Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl.<lb/>
Die Königin ſchickte eine der beiſitzenden Jungfrauen mit<lb/><fwtype="sig"place="bottom">Schwab, das klaſſ. Alterthum. <hirendition="#aq">I</hi>. 7<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[97/0123]
Verſammlung das friedliche Anſinnen der Argonauten
vorgelegt, ſprach ſie aufgerichtet: „Liebe Schweſtern, wir
haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬
heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde,
wenn ſie ſich, uns darbieten, nicht zurückſtoßen. Aber wir
müſſen auch dafür ſorgen, daß ſie nichts von unſerer
Unthat erfahren. Darum iſt mein Rath, den Fremden
Speiſe, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu
laſſen, und durch ſolche Bereitwilligkeit ſie ferne von un¬
ſern Mauern zu halten.“
Die Königin hatte ſich wieder niedergeſetzt und da¬
gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete ſie
ihren Kopf aus den Schultern auf und ſprach: „Sendet
immerhin den Fremdlingen Geſchenke: dieß iſt wohlge¬
than. Denket aber auch daran, was euch bevorſteht,
wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger
Gott dieſe ferne hält, ſeyd ihr darum vor allem Uebel
ſicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig
ſeyn, wir werden ſterben, ehe die Noth dringend wird,
ehe alle unſere Vorräthe zu Ende ſind. Ihr Jüngeren
aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden ſich die
Ochſen für euch von ſelbſt ins Joch ſpannen und den
Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden ſie an eurer
Statt, wenn das Jahr herum iſt, die reifen Aehren ab¬
ſchneiden? denn ihr ſelbſt werdet dieſe und andere harte
Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch,
weiſet den erwünſchten Schutz nicht ab, der ſich euch dar¬
bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬
lingen an, und laßt ſie eure ſchöne Stadt verwalten!“
Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl.
Die Königin ſchickte eine der beiſitzenden Jungfrauen mit
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 7
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/123>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.