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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Hier herrschte der König Kokalus. Wie einst bei Minos
auf Kreta fand er bei ihm gastliche Aufnahme, und seine
Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange
zeigte man da einen künstlichen See, den er gegraben,
und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte
Meer ergoß; auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstür¬
men war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu ha¬
ben schienen, setzte er eine feste Stadt, und führte zu ihr
einen so engen und künstlich gewundenen Weg empor,
daß drei oder vier Männer hinreichten, die Veste zu ver¬
theidigen. Diese unbezwingliche Burg wählte dann der
König Kokalus zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das
dritte Werk des Dädalus auf der Insel Sicilien war
eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdischen
Feuers so geschickt auf, daß der Aufenthalt in einer
Grotte, die sonst feucht zu seyn pflegte, so angenehm
war, wie in einem gelinde geheizten Zimmer, und der
Körper allmählig in einen wohlthätigen Schweiß kam,
ohne dabei von der Hitze belästigt zu werden. Auch den
Venustempel auf dem Vorgebirge Eryr erweiterte er,
und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit
der größten Kunst ausgearbeitet war und einer wirklichen
Honigwabe täuschend ähnlich sah.

Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der
Baumeister heimlich verlassen hatte, daß Dädalus sich
nach Sicilien geflüchtet habe, und faßte den Entschluß,
ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er
rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von
Kreta nach Agrigent. Hier schiffte er seine Landtruppen
aus, und schickte Botschafter an den König Kokalus, wel¬
che die Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten.

Hier herrſchte der König Kokalus. Wie einſt bei Minos
auf Kreta fand er bei ihm gaſtliche Aufnahme, und ſeine
Kunſt ſetzte die Einwohner in Erſtaunen. Noch lange
zeigte man da einen künſtlichen See, den er gegraben,
und aus dem ein breiter Fluß ſich in das benachbarte
Meer ergoß; auf den ſteilſten Felſen, der nicht zu erſtür¬
men war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu ha¬
ben ſchienen, ſetzte er eine feſte Stadt, und führte zu ihr
einen ſo engen und künſtlich gewundenen Weg empor,
daß drei oder vier Männer hinreichten, die Veſte zu ver¬
theidigen. Dieſe unbezwingliche Burg wählte dann der
König Kokalus zur Aufbewahrung ſeiner Schätze. Das
dritte Werk des Dädalus auf der Inſel Sicilien war
eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdiſchen
Feuers ſo geſchickt auf, daß der Aufenthalt in einer
Grotte, die ſonſt feucht zu ſeyn pflegte, ſo angenehm
war, wie in einem gelinde geheizten Zimmer, und der
Körper allmählig in einen wohlthätigen Schweiß kam,
ohne dabei von der Hitze beläſtigt zu werden. Auch den
Venustempel auf dem Vorgebirge Eryr erweiterte er,
und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit
der größten Kunſt ausgearbeitet war und einer wirklichen
Honigwabe täuſchend ähnlich ſah.

Nun erfuhr aber König Minos, deſſen Inſel der
Baumeiſter heimlich verlaſſen hatte, daß Dädalus ſich
nach Sicilien geflüchtet habe, und faßte den Entſchluß,
ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er
rüſtete eine anſehnliche Flotte aus und fuhr damit von
Kreta nach Agrigent. Hier ſchiffte er ſeine Landtruppen
aus, und ſchickte Botſchafter an den König Kokalus, wel¬
che die Auslieferung des Flüchtlings verlangen ſollten.

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[87/0113] Hier herrſchte der König Kokalus. Wie einſt bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gaſtliche Aufnahme, und ſeine Kunſt ſetzte die Einwohner in Erſtaunen. Noch lange zeigte man da einen künſtlichen See, den er gegraben, und aus dem ein breiter Fluß ſich in das benachbarte Meer ergoß; auf den ſteilſten Felſen, der nicht zu erſtür¬ men war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu ha¬ ben ſchienen, ſetzte er eine feſte Stadt, und führte zu ihr einen ſo engen und künſtlich gewundenen Weg empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Veſte zu ver¬ theidigen. Dieſe unbezwingliche Burg wählte dann der König Kokalus zur Aufbewahrung ſeiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalus auf der Inſel Sicilien war eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdiſchen Feuers ſo geſchickt auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die ſonſt feucht zu ſeyn pflegte, ſo angenehm war, wie in einem gelinde geheizten Zimmer, und der Körper allmählig in einen wohlthätigen Schweiß kam, ohne dabei von der Hitze beläſtigt zu werden. Auch den Venustempel auf dem Vorgebirge Eryr erweiterte er, und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunſt ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuſchend ähnlich ſah. Nun erfuhr aber König Minos, deſſen Inſel der Baumeiſter heimlich verlaſſen hatte, daß Dädalus ſich nach Sicilien geflüchtet habe, und faßte den Entſchluß, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er rüſtete eine anſehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier ſchiffte er ſeine Landtruppen aus, und ſchickte Botſchafter an den König Kokalus, wel¬ che die Auslieferung des Flüchtlings verlangen ſollten.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/113>, abgerufen am 24.11.2024.