Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

gemacht, seinen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬
nem Uebermuthe mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone
zusteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus.
Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬
gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusammen¬
hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel
aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken.
Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang sei¬
ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen,
und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬
men seines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch
ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬
resfluth verschlungen. Das alles war so schnell geschehen,
daß Dädalus, hinter sich nach seinem Sohne, wie er von
Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr
von ihm gewahr wurde. "Ikarus, Ikarus!" rief er
trostlos durch den leeren Luftraum. "Wo, in welchem
Bezirke der Luft soll ich dich suchen?" Endlich sandte
er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da
sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte
er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Trost
am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den
Leichnam seines unglückseligen Kindes ans Gestade spiel¬
ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬
zweifelnde Vater sorgte für das Begräbniß des Sohnes.
Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen, und wo
der Leichnam ans Ufer geschwemmt worden war. Zum
ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt
das Eiland den Namen Ikaria.

Als Dädalus seinen Sohn begraben hatte, fuhr er
von dieser Insel weiter nach der großen Insel Sicilien.

gemacht, ſeinen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬
nem Uebermuthe mit ſeinem Flügelpaar einer höheren Zone
zuſteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus.
Die Nachbarſchaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬
gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zuſammen¬
hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel
aufgelöſt und zu beiden Seiten den Schultern entſunken.
Noch ruderte der unglückliche Jüngling und ſchwang ſei¬
ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu faſſen,
und plötzlich ſtürzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬
men ſeines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch
ehe er ihn ausſprechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬
resfluth verſchlungen. Das alles war ſo ſchnell geſchehen,
daß Dädalus, hinter ſich nach ſeinem Sohne, wie er von
Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr
von ihm gewahr wurde. „Ikarus, Ikarus!“ rief er
troſtlos durch den leeren Luftraum. „Wo, in welchem
Bezirke der Luft ſoll ich dich ſuchen?“ Endlich ſandte
er die ängſtlich forſchenden Blicke nach der Tiefe. Da
ſah er im Waſſer die Federn ſchwimmen. Nun ſenkte
er ſeinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Troſt
am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den
Leichnam ſeines unglückſeligen Kindes ans Geſtade ſpiel¬
ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬
zweifelnde Vater ſorgte für das Begräbniß des Sohnes.
Es war eine Inſel, wo er ſich niedergelaſſen, und wo
der Leichnam ans Ufer geſchwemmt worden war. Zum
ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt
das Eiland den Namen Ikaria.

Als Dädalus ſeinen Sohn begraben hatte, fuhr er
von dieſer Inſel weiter nach der großen Inſel Sicilien.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0112" n="86"/>
gemacht, &#x017F;einen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬<lb/>
nem Uebermuthe mit &#x017F;einem Flügelpaar einer höheren Zone<lb/>
zu&#x017F;teuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus.<lb/>
Die Nachbar&#x017F;chaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬<lb/>
gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zu&#x017F;ammen¬<lb/>
hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel<lb/>
aufgelö&#x017F;t und zu beiden Seiten den Schultern ent&#x017F;unken.<lb/>
Noch ruderte der unglückliche Jüngling und &#x017F;chwang &#x017F;ei¬<lb/>
ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und plötzlich &#x017F;türzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬<lb/>
men &#x017F;eines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch<lb/>
ehe er ihn aus&#x017F;prechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬<lb/>
resfluth ver&#x017F;chlungen. Das alles war &#x017F;o &#x017F;chnell ge&#x017F;chehen,<lb/>
daß Dädalus, hinter &#x017F;ich nach &#x017F;einem Sohne, wie er von<lb/>
Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr<lb/>
von ihm gewahr wurde. &#x201E;Ikarus, Ikarus!&#x201C; rief er<lb/>
tro&#x017F;tlos durch den leeren Luftraum. &#x201E;Wo, in welchem<lb/>
Bezirke der Luft &#x017F;oll ich dich &#x017F;uchen?&#x201C; Endlich &#x017F;andte<lb/>
er die äng&#x017F;tlich for&#x017F;chenden Blicke nach der Tiefe. Da<lb/>
&#x017F;ah er im Wa&#x017F;&#x017F;er die Federn &#x017F;chwimmen. Nun &#x017F;enkte<lb/>
er &#x017F;einen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Tro&#x017F;t<lb/>
am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den<lb/>
Leichnam &#x017F;eines unglück&#x017F;eligen Kindes ans Ge&#x017F;tade &#x017F;piel¬<lb/>
ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬<lb/>
zweifelnde Vater &#x017F;orgte für das Begräbniß des Sohnes.<lb/>
Es war eine In&#x017F;el, wo er &#x017F;ich niedergela&#x017F;&#x017F;en, und wo<lb/>
der Leichnam ans Ufer ge&#x017F;chwemmt worden war. Zum<lb/>
ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt<lb/>
das Eiland den Namen Ikaria.</p><lb/>
          <p>Als Dädalus &#x017F;einen Sohn begraben hatte, fuhr er<lb/>
von die&#x017F;er In&#x017F;el weiter nach der großen In&#x017F;el Sicilien.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0112] gemacht, ſeinen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬ nem Uebermuthe mit ſeinem Flügelpaar einer höheren Zone zuſteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarſchaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬ gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zuſammen¬ hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöſt und zu beiden Seiten den Schultern entſunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und ſchwang ſei¬ ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu faſſen, und plötzlich ſtürzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬ men ſeines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn ausſprechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬ resfluth verſchlungen. Das alles war ſo ſchnell geſchehen, daß Dädalus, hinter ſich nach ſeinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm gewahr wurde. „Ikarus, Ikarus!“ rief er troſtlos durch den leeren Luftraum. „Wo, in welchem Bezirke der Luft ſoll ich dich ſuchen?“ Endlich ſandte er die ängſtlich forſchenden Blicke nach der Tiefe. Da ſah er im Waſſer die Federn ſchwimmen. Nun ſenkte er ſeinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Troſt am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam ſeines unglückſeligen Kindes ans Geſtade ſpiel¬ ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬ zweifelnde Vater ſorgte für das Begräbniß des Sohnes. Es war eine Inſel, wo er ſich niedergelaſſen, und wo der Leichnam ans Ufer geſchwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt das Eiland den Namen Ikaria. Als Dädalus ſeinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieſer Inſel weiter nach der großen Inſel Sicilien.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/112
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/112>, abgerufen am 02.05.2024.