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Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911.

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8 W. SCHULZE:


Die Herbstferien der Jahre 1878 und 1880 führten ihn nach England
und Irland, um die Handschriftenschätze der dortigen Bibliotheken und zu-
gleich Art und Sprache des irischen Volkes aus eigener Anschauung kennen
zu lernen. Im Britischen Museum und auf der Bodleiana, in den Biblio-
theken des Trinity College, der Royal Irish Academy und des Franzis-
kanerkonventes zu Dublin hat er das literarische Vermächtnis des irischen
Mittelalters in all seiner Fülle und formlosen Buntheit, kollationierend und
exzerpierend, auf sich wirken lassen, die Schauplätze der alten irischen
Heldensage offenen Auges durchwandert, wochenlang unter der irischen
Landbevölkerung des Westens gelebt, überall mit dem Volke in seiner Sprache
redend und mit aufmerksamer Beobachtung alle Äußerungen seines mate-
riellen, religiösen und nationalen Lebens begleitend.
Seit dem Frühjahr 1880 trägt sich Zimmer mit der Absicht einer
Neugestaltung der Grammatica Celtica. Die Arbeit der nächsten Jahre steht
unter dem Zeichen gewissenhafter Vorbereitung für diese große Aufgabe,
die bald durch den Plan eines vergleichenden Wörterbuches des altirischen
Sprachschatzes erweitert wird (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1882, 687).
Beides ist nicht bis zur Ausführung gediehen. Äußere Zufälligkeiten und
der Gang seiner Studien führten Zimmer auch diesmal ganz andere Wege
(Zeitschrift für Celtische Philologie 6, 460).
Die Sammlung der über viele Handschriften des Kontinents verstreuten
altirischen Glossen, auf denen allein eine sichere Darstellung der ältesten
Grammatik aufgebaut werden kann, war die erste auch für Zimmers weitere
Arbeit folgenreiche Frucht dieser Vorbereitung (Glossae Hibernicae 1881).
Denn die Beschäftigung mit den Kodizes, ihren Schreibern und wechselnden
Besitzern, ihrem literarischen Inhalte gab den entscheidenden Anstoß, der
für die Kultur des Abendlandes in den Jahrhunderten 7, 8, 9 bedeutungs-
vollen Wirksamkeit der irischen Missionare, Klostergründer und Schulhäupter
in Frankreich, Deutschland und Oberitalien im Zusammenhange nachzugehen
(Preußische Jahrbücher 59, 1887, 27), und führte zwei Jahrzehnte später zu
den für die Patristik noch mehr als für die irische Kirchengeschichte wich-
tigen Entdeckungen Zimmers über die handschriftlichen Schicksale des
halbverschollenen Pelagiuskommentars zu den Paulinischen Briefen.
Wenige Monate nach den Glossae Hibernicae erschien das erste Heft
der 'Keltischen Studien' (1881), zugleich eine Streitschrift und ein Pro-
gramm, im Tone von selten gehörter Schärfe und durch keine Rücksicht


8 W. SCHULZE:


Die Herbstferien der Jahre 1878 und 1880 führten ihn nach England
und Irland, um die Handschriftenschätze der dortigen Bibliotheken und zu-
gleich Art und Sprache des irischen Volkes aus eigener Anschauung kennen
zu lernen. Im Britischen Museum und auf der Bodleiana, in den Biblio-
theken des Trinity College, der Royal Irish Academy und des Franzis-
kanerkonventes zu Dublin hat er das literarische Vermächtnis des irischen
Mittelalters in all seiner Fülle und formlosen Buntheit, kollationierend und
exzerpierend, auf sich wirken lassen, die Schauplätze der alten irischen
Heldensage offenen Auges durchwandert, wochenlang unter der irischen
Landbevölkerung des Westens gelebt, überall mit dem Volke in seiner Sprache
redend und mit aufmerksamer Beobachtung alle Äußerungen seines mate-
riellen, religiösen und nationalen Lebens begleitend.
Seit dem Frühjahr 1880 trägt sich Zimmer mit der Absicht einer
Neugestaltung der Grammatica Celtica. Die Arbeit der nächsten Jahre steht
unter dem Zeichen gewissenhafter Vorbereitung für diese große Aufgabe,
die bald durch den Plan eines vergleichenden Wörterbuches des altirischen
Sprachschatzes erweitert wird (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1882, 687).
Beides ist nicht bis zur Ausführung gediehen. Äußere Zufälligkeiten und
der Gang seiner Studien führten Zimmer auch diesmal ganz andere Wege
(Zeitschrift für Celtische Philologie 6, 460).
Die Sammlung der über viele Handschriften des Kontinents verstreuten
altirischen Glossen, auf denen allein eine sichere Darstellung der ältesten
Grammatik aufgebaut werden kann, war die erste auch für Zimmers weitere
Arbeit folgenreiche Frucht dieser Vorbereitung (Glossae Hibernicae 1881).
Denn die Beschäftigung mit den Kodizes, ihren Schreibern und wechselnden
Besitzern, ihrem literarischen Inhalte gab den entscheidenden Anstoß, der
für die Kultur des Abendlandes in den Jahrhunderten 7, 8, 9 bedeutungs-
vollen Wirksamkeit der irischen Missionare, Klostergründer und Schulhäupter
in Frankreich, Deutschland und Oberitalien im Zusammenhange nachzugehen
(Preußische Jahrbücher 59, 1887, 27), und führte zwei Jahrzehnte später zu
den für die Patristik noch mehr als für die irische Kirchengeschichte wich-
tigen Entdeckungen Zimmers über die handschriftlichen Schicksale des
halbverschollenen Pelagiuskommentars zu den Paulinischen Briefen.
Wenige Monate nach den Glossae Hibernicae erschien das erste Heft
der ‘Keltischen Studien’ (1881), zugleich eine Streitschrift und ein Pro-
gramm, im Tone von selten gehörter Schärfe und durch keine Rücksicht

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[10/0010] 8 W. SCHULZE: Die Herbstferien der Jahre 1878 und 1880 führten ihn nach England und Irland, um die Handschriftenschätze der dortigen Bibliotheken und zu- gleich Art und Sprache des irischen Volkes aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Im Britischen Museum und auf der Bodleiana, in den Biblio- theken des Trinity College, der Royal Irish Academy und des Franzis- kanerkonventes zu Dublin hat er das literarische Vermächtnis des irischen Mittelalters in all seiner Fülle und formlosen Buntheit, kollationierend und exzerpierend, auf sich wirken lassen, die Schauplätze der alten irischen Heldensage offenen Auges durchwandert, wochenlang unter der irischen Landbevölkerung des Westens gelebt, überall mit dem Volke in seiner Sprache redend und mit aufmerksamer Beobachtung alle Äußerungen seines mate- riellen, religiösen und nationalen Lebens begleitend. Seit dem Frühjahr 1880 trägt sich Zimmer mit der Absicht einer Neugestaltung der Grammatica Celtica. Die Arbeit der nächsten Jahre steht unter dem Zeichen gewissenhafter Vorbereitung für diese große Aufgabe, die bald durch den Plan eines vergleichenden Wörterbuches des altirischen Sprachschatzes erweitert wird (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1882, 687). Beides ist nicht bis zur Ausführung gediehen. Äußere Zufälligkeiten und der Gang seiner Studien führten Zimmer auch diesmal ganz andere Wege (Zeitschrift für Celtische Philologie 6, 460). Die Sammlung der über viele Handschriften des Kontinents verstreuten altirischen Glossen, auf denen allein eine sichere Darstellung der ältesten Grammatik aufgebaut werden kann, war die erste auch für Zimmers weitere Arbeit folgenreiche Frucht dieser Vorbereitung (Glossae Hibernicae 1881). Denn die Beschäftigung mit den Kodizes, ihren Schreibern und wechselnden Besitzern, ihrem literarischen Inhalte gab den entscheidenden Anstoß, der für die Kultur des Abendlandes in den Jahrhunderten 7, 8, 9 bedeutungs- vollen Wirksamkeit der irischen Missionare, Klostergründer und Schulhäupter in Frankreich, Deutschland und Oberitalien im Zusammenhange nachzugehen (Preußische Jahrbücher 59, 1887, 27), und führte zwei Jahrzehnte später zu den für die Patristik noch mehr als für die irische Kirchengeschichte wich- tigen Entdeckungen Zimmers über die handschriftlichen Schicksale des halbverschollenen Pelagiuskommentars zu den Paulinischen Briefen. Wenige Monate nach den Glossae Hibernicae erschien das erste Heft der ‘Keltischen Studien’ (1881), zugleich eine Streitschrift und ein Pro- gramm, im Tone von selten gehörter Schärfe und durch keine Rücksicht

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Zitationshilfe: Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulze_zimmer_1911/10>, abgerufen am 25.11.2024.