Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Die Zofe bot ihre Dienste bei der Toilette an und führte Leonoren dann zu ihrer Herrin, um mit dieser die Morgenchocolade zu nehmen. Wie haben Sie geruht? fragte die freundliche alte Dame, als Leonore bei ihr eintrat -- setzen Sie sich, theures Kind -- der Graf hat schon zweimal hergeschickt, um sich nach Ihnen zu erkundigen -- wissen Sie, daß es zehn Uhr ist? Zehn Uhr? Und mein Bruder noch nicht da? Es ist merkwürdig, wie Sie aussehen! So frisch, so blendend -- keine Spur von Ermüdung mehr -- Sie sind ein wahres Wunder der Natur. Es ist leicht begreiflich, daß Sie alle Männerherzen hinreißen. Der Graf ist rein toll -- und darauf können Sie sich etwas einbilden -- wäre er auch nicht nach dem Könige von Frankreich der vornehmste Mann, ich darf wohl sagen, der Welt -- er wäre immer der superbste Cavalier! Frau von Breteuil ergoß sich nun in einen Strom von Lobeserhebungen des Grafen von Artois. Sie hatte eine höchst geläufige Zunge. Sie plauderte in Einem fort, sie schüttete endlich in Leonorens Busen allen ihren Kummer aus. Was hatte sie auch nicht leiden müssen, die arme Frau, seit sie Frankreich verlassen! Das Unglück hatte begonnen mit dem herzbrechenden Tode Coco's, ihres Affen, der am Tage nach dem 14. Juli, der Erstürmung der Bastille, gestorben war, ganz gewiß aus Zorn über die Frechheit des so plötzlich emancipirten Pöbels. Dann war ihr ein Gar- Die Zofe bot ihre Dienste bei der Toilette an und führte Leonoren dann zu ihrer Herrin, um mit dieser die Morgenchocolade zu nehmen. Wie haben Sie geruht? fragte die freundliche alte Dame, als Leonore bei ihr eintrat — setzen Sie sich, theures Kind — der Graf hat schon zweimal hergeschickt, um sich nach Ihnen zu erkundigen — wissen Sie, daß es zehn Uhr ist? Zehn Uhr? Und mein Bruder noch nicht da? Es ist merkwürdig, wie Sie aussehen! So frisch, so blendend — keine Spur von Ermüdung mehr — Sie sind ein wahres Wunder der Natur. Es ist leicht begreiflich, daß Sie alle Männerherzen hinreißen. Der Graf ist rein toll — und darauf können Sie sich etwas einbilden — wäre er auch nicht nach dem Könige von Frankreich der vornehmste Mann, ich darf wohl sagen, der Welt — er wäre immer der superbste Cavalier! Frau von Breteuil ergoß sich nun in einen Strom von Lobeserhebungen des Grafen von Artois. Sie hatte eine höchst geläufige Zunge. Sie plauderte in Einem fort, sie schüttete endlich in Leonorens Busen allen ihren Kummer aus. Was hatte sie auch nicht leiden müssen, die arme Frau, seit sie Frankreich verlassen! Das Unglück hatte begonnen mit dem herzbrechenden Tode Coco's, ihres Affen, der am Tage nach dem 14. Juli, der Erstürmung der Bastille, gestorben war, ganz gewiß aus Zorn über die Frechheit des so plötzlich emancipirten Pöbels. Dann war ihr ein Gar- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <p><pb facs="#f0092"/> Die Zofe bot ihre Dienste bei der Toilette an und führte Leonoren dann zu ihrer Herrin, um mit dieser die Morgenchocolade zu nehmen.</p><lb/> <p>Wie haben Sie geruht? fragte die freundliche alte Dame, als Leonore bei ihr eintrat — setzen Sie sich, theures Kind — der Graf hat schon zweimal hergeschickt, um sich nach Ihnen zu erkundigen — wissen Sie, daß es zehn Uhr ist?</p><lb/> <p>Zehn Uhr? Und mein Bruder noch nicht da?</p><lb/> <p>Es ist merkwürdig, wie Sie aussehen! So frisch, so blendend — keine Spur von Ermüdung mehr — Sie sind ein wahres Wunder der Natur. Es ist leicht begreiflich, daß Sie alle Männerherzen hinreißen. Der Graf ist rein toll — und darauf können Sie sich etwas einbilden — wäre er auch nicht nach dem Könige von Frankreich der vornehmste Mann, ich darf wohl sagen, der Welt — er wäre immer der superbste Cavalier!</p><lb/> <p>Frau von Breteuil ergoß sich nun in einen Strom von Lobeserhebungen des Grafen von Artois. Sie hatte eine höchst geläufige Zunge. Sie plauderte in Einem fort, sie schüttete endlich in Leonorens Busen allen ihren Kummer aus. Was hatte sie auch nicht leiden müssen, die arme Frau, seit sie Frankreich verlassen! Das Unglück hatte begonnen mit dem herzbrechenden Tode Coco's, ihres Affen, der am Tage nach dem 14. Juli, der Erstürmung der Bastille, gestorben war, ganz gewiß aus Zorn über die Frechheit des so plötzlich emancipirten Pöbels. Dann war ihr ein Gar-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0092]
Die Zofe bot ihre Dienste bei der Toilette an und führte Leonoren dann zu ihrer Herrin, um mit dieser die Morgenchocolade zu nehmen.
Wie haben Sie geruht? fragte die freundliche alte Dame, als Leonore bei ihr eintrat — setzen Sie sich, theures Kind — der Graf hat schon zweimal hergeschickt, um sich nach Ihnen zu erkundigen — wissen Sie, daß es zehn Uhr ist?
Zehn Uhr? Und mein Bruder noch nicht da?
Es ist merkwürdig, wie Sie aussehen! So frisch, so blendend — keine Spur von Ermüdung mehr — Sie sind ein wahres Wunder der Natur. Es ist leicht begreiflich, daß Sie alle Männerherzen hinreißen. Der Graf ist rein toll — und darauf können Sie sich etwas einbilden — wäre er auch nicht nach dem Könige von Frankreich der vornehmste Mann, ich darf wohl sagen, der Welt — er wäre immer der superbste Cavalier!
Frau von Breteuil ergoß sich nun in einen Strom von Lobeserhebungen des Grafen von Artois. Sie hatte eine höchst geläufige Zunge. Sie plauderte in Einem fort, sie schüttete endlich in Leonorens Busen allen ihren Kummer aus. Was hatte sie auch nicht leiden müssen, die arme Frau, seit sie Frankreich verlassen! Das Unglück hatte begonnen mit dem herzbrechenden Tode Coco's, ihres Affen, der am Tage nach dem 14. Juli, der Erstürmung der Bastille, gestorben war, ganz gewiß aus Zorn über die Frechheit des so plötzlich emancipirten Pöbels. Dann war ihr ein Gar-
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Zitationshilfe: | Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/92>, abgerufen am 16.02.2025. |