Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

heimniß ihrer Situation durchschaute, so konnte sie hoffen, daß das Demüthigende derselben in seinen Augen ein Gleichgewicht erhalte durch das, was auch Rechtfertigendes für sie darin lag.

Fürs Erste hatte Leonore übrigens wenig Zeit, an Philibert zu denken, so oft sie sich auch über dem Wunsch ertappte, eine kurze Stunde sich zurückzuziehen, um in Ruhe träumen zu können. Ein solches Glück war ihr aber nicht beschieden. Die Schwägerin forderte hundert, ihre Kammerfrau tausend Dinge, welche nicht zu beschaffen waren, und für die irgend ein Surrogat erfunden werden mußte; sie flog Treppe auf, Treppe ab im Hause wie ein gehetzter Vogel, aber unermüdlich, ohne Klage, ohne Ueberdruß.

So gelang es ihr denn, die Gäste in der besten Illusion zu erhalten. Die Stunden des Tages verflossen ohne irgend ein bemerkenswerthes Zwischenereigniß. Am Nachmittage wandelten die drei Bewohner von Windschrot einen schattigen Pfad am Ufer des Flusses entlang. Bei einer Wendung des Weges sahen sie plötzlich Philibert vor sich, der von seiner Jagdstreiferei heimzukehren schien. Leonore fühlte, daß sie erröthete, und ohne sich Rechenschaft von diesem seltsamen Erschrecken geben zu können, hing sie sich unwillkürlich, wie um eine Stütze zu suchen, an den Arm ihres Bruders. Der Forstmann schloß sich den Spaziergängern nicht an. Er grüßte freundlich und ging vorüber. Leonore hatte gefürchtet, daß er sich anschließen würde;

heimniß ihrer Situation durchschaute, so konnte sie hoffen, daß das Demüthigende derselben in seinen Augen ein Gleichgewicht erhalte durch das, was auch Rechtfertigendes für sie darin lag.

Fürs Erste hatte Leonore übrigens wenig Zeit, an Philibert zu denken, so oft sie sich auch über dem Wunsch ertappte, eine kurze Stunde sich zurückzuziehen, um in Ruhe träumen zu können. Ein solches Glück war ihr aber nicht beschieden. Die Schwägerin forderte hundert, ihre Kammerfrau tausend Dinge, welche nicht zu beschaffen waren, und für die irgend ein Surrogat erfunden werden mußte; sie flog Treppe auf, Treppe ab im Hause wie ein gehetzter Vogel, aber unermüdlich, ohne Klage, ohne Ueberdruß.

So gelang es ihr denn, die Gäste in der besten Illusion zu erhalten. Die Stunden des Tages verflossen ohne irgend ein bemerkenswerthes Zwischenereigniß. Am Nachmittage wandelten die drei Bewohner von Windschrot einen schattigen Pfad am Ufer des Flusses entlang. Bei einer Wendung des Weges sahen sie plötzlich Philibert vor sich, der von seiner Jagdstreiferei heimzukehren schien. Leonore fühlte, daß sie erröthete, und ohne sich Rechenschaft von diesem seltsamen Erschrecken geben zu können, hing sie sich unwillkürlich, wie um eine Stütze zu suchen, an den Arm ihres Bruders. Der Forstmann schloß sich den Spaziergängern nicht an. Er grüßte freundlich und ging vorüber. Leonore hatte gefürchtet, daß er sich anschließen würde;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="5">
        <p><pb facs="#f0064"/>
heimniß ihrer      Situation durchschaute, so konnte sie hoffen, daß das Demüthigende derselben in seinen Augen      ein Gleichgewicht erhalte durch das, was auch Rechtfertigendes für sie darin lag.</p><lb/>
        <p>Fürs Erste hatte Leonore übrigens wenig Zeit, an Philibert zu denken, so oft sie sich auch      über dem Wunsch ertappte, eine kurze Stunde sich zurückzuziehen, um in Ruhe träumen zu können.      Ein solches Glück war ihr aber nicht beschieden. Die Schwägerin forderte hundert, ihre      Kammerfrau tausend Dinge, welche nicht zu beschaffen waren, und für die irgend ein Surrogat      erfunden werden mußte; sie flog Treppe auf, Treppe ab im Hause wie ein gehetzter Vogel, aber      unermüdlich, ohne Klage, ohne Ueberdruß.</p><lb/>
        <p>So gelang es ihr denn, die Gäste in der besten Illusion zu erhalten. Die Stunden des Tages      verflossen ohne irgend ein bemerkenswerthes Zwischenereigniß. Am Nachmittage wandelten die drei      Bewohner von Windschrot einen schattigen Pfad am Ufer des Flusses entlang. Bei einer Wendung      des Weges sahen sie plötzlich Philibert vor sich, der von seiner Jagdstreiferei heimzukehren      schien. Leonore fühlte, daß sie erröthete, und ohne sich Rechenschaft von diesem seltsamen      Erschrecken geben zu können, hing sie sich unwillkürlich, wie um eine Stütze zu suchen, an den      Arm ihres Bruders. Der Forstmann schloß sich den Spaziergängern nicht an. Er grüßte freundlich      und ging vorüber. Leonore hatte gefürchtet, daß er sich anschließen würde;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] heimniß ihrer Situation durchschaute, so konnte sie hoffen, daß das Demüthigende derselben in seinen Augen ein Gleichgewicht erhalte durch das, was auch Rechtfertigendes für sie darin lag. Fürs Erste hatte Leonore übrigens wenig Zeit, an Philibert zu denken, so oft sie sich auch über dem Wunsch ertappte, eine kurze Stunde sich zurückzuziehen, um in Ruhe träumen zu können. Ein solches Glück war ihr aber nicht beschieden. Die Schwägerin forderte hundert, ihre Kammerfrau tausend Dinge, welche nicht zu beschaffen waren, und für die irgend ein Surrogat erfunden werden mußte; sie flog Treppe auf, Treppe ab im Hause wie ein gehetzter Vogel, aber unermüdlich, ohne Klage, ohne Ueberdruß. So gelang es ihr denn, die Gäste in der besten Illusion zu erhalten. Die Stunden des Tages verflossen ohne irgend ein bemerkenswerthes Zwischenereigniß. Am Nachmittage wandelten die drei Bewohner von Windschrot einen schattigen Pfad am Ufer des Flusses entlang. Bei einer Wendung des Weges sahen sie plötzlich Philibert vor sich, der von seiner Jagdstreiferei heimzukehren schien. Leonore fühlte, daß sie erröthete, und ohne sich Rechenschaft von diesem seltsamen Erschrecken geben zu können, hing sie sich unwillkürlich, wie um eine Stütze zu suchen, an den Arm ihres Bruders. Der Forstmann schloß sich den Spaziergängern nicht an. Er grüßte freundlich und ging vorüber. Leonore hatte gefürchtet, daß er sich anschließen würde;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/64
Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/64>, abgerufen am 25.11.2024.