Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.IV. Als Gertrude am andern Morgen früh in der Küche beschäftigt war, hörte sie ein leises Klopfen am Fenster. Sie schrak zusammen, denn sie erwartete beim Aufsehen den Kopf des Verwalters zu erblicken, dem sie nun einmal bonne mine machen mußte, obwohl ihr das Spiel seiner Züge bei solchen Begrüßungen ein recht mauvais jeu schien. Aber es war ein ganz anderes Gesicht, das sich in diesem Augenblicke eine breite und höchst kurzweilig gedrechselte Nase an der Fensterscheibe platt drückte -- ein rundes rothes Menschenantlitz mit Pockennarben und fuchsigem Stoppelbärtlein, und kleinen, kugelrunden, hervortretenden Augen, die aus der Wirrniß dieser verwickelten Züge so klar und hell hervorguckten, wie ein paar Eidechsenäuglein aus einem Büschel Thymian und Moosranken. Gertrude stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Der Mann nahm ein dreieckiges Hütlein vom grauen Kopfe, an dem ein kurzer Zopf baumelte, und rief durch die Scheiben: Oeffne Sie, Jungfer, bitte, öffne Sie einmal! Als Gertrude öffnete, bückte er sich, hob eine Last empor, und gleich darauf schoß ein todter Rehbock durch das Fenster und fiel schwer auf den Anrichtetisch, der unter demselben stand. Was ist das, was soll das? IV. Als Gertrude am andern Morgen früh in der Küche beschäftigt war, hörte sie ein leises Klopfen am Fenster. Sie schrak zusammen, denn sie erwartete beim Aufsehen den Kopf des Verwalters zu erblicken, dem sie nun einmal bonne mine machen mußte, obwohl ihr das Spiel seiner Züge bei solchen Begrüßungen ein recht mauvais jeu schien. Aber es war ein ganz anderes Gesicht, das sich in diesem Augenblicke eine breite und höchst kurzweilig gedrechselte Nase an der Fensterscheibe platt drückte — ein rundes rothes Menschenantlitz mit Pockennarben und fuchsigem Stoppelbärtlein, und kleinen, kugelrunden, hervortretenden Augen, die aus der Wirrniß dieser verwickelten Züge so klar und hell hervorguckten, wie ein paar Eidechsenäuglein aus einem Büschel Thymian und Moosranken. Gertrude stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Der Mann nahm ein dreieckiges Hütlein vom grauen Kopfe, an dem ein kurzer Zopf baumelte, und rief durch die Scheiben: Oeffne Sie, Jungfer, bitte, öffne Sie einmal! Als Gertrude öffnete, bückte er sich, hob eine Last empor, und gleich darauf schoß ein todter Rehbock durch das Fenster und fiel schwer auf den Anrichtetisch, der unter demselben stand. Was ist das, was soll das? <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0048"/> <div type="chapter" n="4"> <head>IV.</head> <p>Als Gertrude am andern Morgen früh in der Küche beschäftigt war, hörte sie ein leises Klopfen am Fenster. Sie schrak zusammen, denn sie erwartete beim Aufsehen den Kopf des Verwalters zu erblicken, dem sie nun einmal bonne mine machen mußte, obwohl ihr das Spiel seiner Züge bei solchen Begrüßungen ein recht mauvais jeu schien. Aber es war ein ganz anderes Gesicht, das sich in diesem Augenblicke eine breite und höchst kurzweilig gedrechselte Nase an der Fensterscheibe platt drückte — ein rundes rothes Menschenantlitz mit Pockennarben und fuchsigem Stoppelbärtlein, und kleinen, kugelrunden, hervortretenden Augen, die aus der Wirrniß dieser verwickelten Züge so klar und hell hervorguckten, wie ein paar Eidechsenäuglein aus einem Büschel Thymian und Moosranken.</p><lb/> <p>Gertrude stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Der Mann nahm ein dreieckiges Hütlein vom grauen Kopfe, an dem ein kurzer Zopf baumelte, und rief durch die Scheiben:</p><lb/> <p>Oeffne Sie, Jungfer, bitte, öffne Sie einmal!</p><lb/> <p>Als Gertrude öffnete, bückte er sich, hob eine Last empor, und gleich darauf schoß ein todter Rehbock durch das Fenster und fiel schwer auf den Anrichtetisch, der unter demselben stand.</p><lb/> <p>Was ist das, was soll das?</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0048]
IV. Als Gertrude am andern Morgen früh in der Küche beschäftigt war, hörte sie ein leises Klopfen am Fenster. Sie schrak zusammen, denn sie erwartete beim Aufsehen den Kopf des Verwalters zu erblicken, dem sie nun einmal bonne mine machen mußte, obwohl ihr das Spiel seiner Züge bei solchen Begrüßungen ein recht mauvais jeu schien. Aber es war ein ganz anderes Gesicht, das sich in diesem Augenblicke eine breite und höchst kurzweilig gedrechselte Nase an der Fensterscheibe platt drückte — ein rundes rothes Menschenantlitz mit Pockennarben und fuchsigem Stoppelbärtlein, und kleinen, kugelrunden, hervortretenden Augen, die aus der Wirrniß dieser verwickelten Züge so klar und hell hervorguckten, wie ein paar Eidechsenäuglein aus einem Büschel Thymian und Moosranken.
Gertrude stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Der Mann nahm ein dreieckiges Hütlein vom grauen Kopfe, an dem ein kurzer Zopf baumelte, und rief durch die Scheiben:
Oeffne Sie, Jungfer, bitte, öffne Sie einmal!
Als Gertrude öffnete, bückte er sich, hob eine Last empor, und gleich darauf schoß ein todter Rehbock durch das Fenster und fiel schwer auf den Anrichtetisch, der unter demselben stand.
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Zitationshilfe: | Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/48>, abgerufen am 17.02.2025. |