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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Der Mensch, vor dem man erröthete, ist eine Gestalt, welche in unsern Augen eine unbestrittene Wichtigkeit annimmt. Auf der einen Seite das Bestreben, zu beweisen, man wolle aus seiner günstigen Stellung keinen unedeln Vortheil ziehen; auf der andern Seite der dringende Wunsch, darzuthun, man habe eigentlich gar keinen Grund zur Verlegenheit gehabt -- das führt zusammen, das bringt eine Intimität hervor, die für das Gemüth oft von den entschiedensten Folgen ist!

Je mehr Leonore über den Forstmann nachdachte, desto vortheilhaftere Züge nahm sein Bild an, desto peinlicher fühlte sie ihre Situation ihm gegenüber. Aber auch ein Aufwallen gekränkten Stolzes kochte in der Seele des Edelfräuleins empor -- ungeduldig verwünschte sie, zum ersten Male im Leben, ihre ganze erbarmenswerthe Lage, welche sie so lange mit resignirter Sanftmuth ertragen. Sie hätte vieles darum gegeben, hätte sie eine Schuld an dem Menschen gefunden, vor dem sie sich gedemüthigt fühlte, um auf ihn die Verwünschungen zu häufen, in welchen ihr übervolles gekränktes Herz eine Erleichterung zu finden hoffte. Aber sie vermochte es nicht, und hülflos, niedergeschlagen, tiefbetrübt fand sie endlich keine andere Zuflucht, als bei der ultima ratio der Frauen.

Leonore verbarg das Gesicht in den Kissen ihres Sopha's und weinte, bis sie, körperlich und geistig erschöpft, eingeschlummert war.

Der Mensch, vor dem man erröthete, ist eine Gestalt, welche in unsern Augen eine unbestrittene Wichtigkeit annimmt. Auf der einen Seite das Bestreben, zu beweisen, man wolle aus seiner günstigen Stellung keinen unedeln Vortheil ziehen; auf der andern Seite der dringende Wunsch, darzuthun, man habe eigentlich gar keinen Grund zur Verlegenheit gehabt — das führt zusammen, das bringt eine Intimität hervor, die für das Gemüth oft von den entschiedensten Folgen ist!

Je mehr Leonore über den Forstmann nachdachte, desto vortheilhaftere Züge nahm sein Bild an, desto peinlicher fühlte sie ihre Situation ihm gegenüber. Aber auch ein Aufwallen gekränkten Stolzes kochte in der Seele des Edelfräuleins empor — ungeduldig verwünschte sie, zum ersten Male im Leben, ihre ganze erbarmenswerthe Lage, welche sie so lange mit resignirter Sanftmuth ertragen. Sie hätte vieles darum gegeben, hätte sie eine Schuld an dem Menschen gefunden, vor dem sie sich gedemüthigt fühlte, um auf ihn die Verwünschungen zu häufen, in welchen ihr übervolles gekränktes Herz eine Erleichterung zu finden hoffte. Aber sie vermochte es nicht, und hülflos, niedergeschlagen, tiefbetrübt fand sie endlich keine andere Zuflucht, als bei der ultima ratio der Frauen.

Leonore verbarg das Gesicht in den Kissen ihres Sopha's und weinte, bis sie, körperlich und geistig erschöpft, eingeschlummert war.

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[0047] Der Mensch, vor dem man erröthete, ist eine Gestalt, welche in unsern Augen eine unbestrittene Wichtigkeit annimmt. Auf der einen Seite das Bestreben, zu beweisen, man wolle aus seiner günstigen Stellung keinen unedeln Vortheil ziehen; auf der andern Seite der dringende Wunsch, darzuthun, man habe eigentlich gar keinen Grund zur Verlegenheit gehabt — das führt zusammen, das bringt eine Intimität hervor, die für das Gemüth oft von den entschiedensten Folgen ist! Je mehr Leonore über den Forstmann nachdachte, desto vortheilhaftere Züge nahm sein Bild an, desto peinlicher fühlte sie ihre Situation ihm gegenüber. Aber auch ein Aufwallen gekränkten Stolzes kochte in der Seele des Edelfräuleins empor — ungeduldig verwünschte sie, zum ersten Male im Leben, ihre ganze erbarmenswerthe Lage, welche sie so lange mit resignirter Sanftmuth ertragen. Sie hätte vieles darum gegeben, hätte sie eine Schuld an dem Menschen gefunden, vor dem sie sich gedemüthigt fühlte, um auf ihn die Verwünschungen zu häufen, in welchen ihr übervolles gekränktes Herz eine Erleichterung zu finden hoffte. Aber sie vermochte es nicht, und hülflos, niedergeschlagen, tiefbetrübt fand sie endlich keine andere Zuflucht, als bei der ultima ratio der Frauen. Leonore verbarg das Gesicht in den Kissen ihres Sopha's und weinte, bis sie, körperlich und geistig erschöpft, eingeschlummert war.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/47>, abgerufen am 28.04.2024.