Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.in die grünen Laubwolken vor den Fenstern zu blicken, welche im Abendwinde hin- und herschwammen. Das Herz war ihr unendlich schwer. Leonore stand vor einer furchtbaren Aufgabe, welche sie sich zu lösen vorgenommen und an der ihre Kräfte zu erlahmen drohten. Und doch -- sie durften -- sie sollten nicht erlahmen, diese Kräfte -- das Opfer, welches sie bringen sollten, galt ja dem einzigen Wesen auf Erden, an welchem Leonorens Herz hing -- dem langentbehrten, einzigen, mit einer ungestümen Leidenschaft geliebten Bruder. Um Leonorens Lage zu erklären, müssen wir den Leser einen Blick in die letzten Blätter der Familienchronik des Hauses Windschrot thun lassen. Was auf den früheren Blättern steht, ist ohne Interesse für ihn; es ist darin von nichts Anderem die Rede, als von sehr tapfern Rittern und gestrengen Gutsherren, von züchtigen Frauen und ins Kloster gegangenen Tanten, von erlegten Hirschen mit höchst seltsamen Geweihen, von Geburten und Hochzeiten und vielen andern der Familie zu Ruhm und Ehren ausgeschlagenen Ereignissen dieser Art. Erst mit dem Vater Leonorens erhebt sich aus der reichen Nomenclatur heimgegangener Barone von Windschrot eine originelle und ganz aus der Art schlagende Physiognomie. Stephan Heribert von Windschrot war nämlich schon als Knabe ein schwer zu lenkender Querkopf. Es war nicht möglich gewesen, von den ehrwürdigen und in die grünen Laubwolken vor den Fenstern zu blicken, welche im Abendwinde hin- und herschwammen. Das Herz war ihr unendlich schwer. Leonore stand vor einer furchtbaren Aufgabe, welche sie sich zu lösen vorgenommen und an der ihre Kräfte zu erlahmen drohten. Und doch — sie durften — sie sollten nicht erlahmen, diese Kräfte — das Opfer, welches sie bringen sollten, galt ja dem einzigen Wesen auf Erden, an welchem Leonorens Herz hing — dem langentbehrten, einzigen, mit einer ungestümen Leidenschaft geliebten Bruder. Um Leonorens Lage zu erklären, müssen wir den Leser einen Blick in die letzten Blätter der Familienchronik des Hauses Windschrot thun lassen. Was auf den früheren Blättern steht, ist ohne Interesse für ihn; es ist darin von nichts Anderem die Rede, als von sehr tapfern Rittern und gestrengen Gutsherren, von züchtigen Frauen und ins Kloster gegangenen Tanten, von erlegten Hirschen mit höchst seltsamen Geweihen, von Geburten und Hochzeiten und vielen andern der Familie zu Ruhm und Ehren ausgeschlagenen Ereignissen dieser Art. Erst mit dem Vater Leonorens erhebt sich aus der reichen Nomenclatur heimgegangener Barone von Windschrot eine originelle und ganz aus der Art schlagende Physiognomie. Stephan Heribert von Windschrot war nämlich schon als Knabe ein schwer zu lenkender Querkopf. Es war nicht möglich gewesen, von den ehrwürdigen und <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0020"/> in die grünen Laubwolken vor den Fenstern zu blicken, welche im Abendwinde hin- und herschwammen.</p><lb/> <p>Das Herz war ihr unendlich schwer. Leonore stand vor einer furchtbaren Aufgabe, welche sie sich zu lösen vorgenommen und an der ihre Kräfte zu erlahmen drohten. Und doch — sie durften — sie sollten nicht erlahmen, diese Kräfte — das Opfer, welches sie bringen sollten, galt ja dem einzigen Wesen auf Erden, an welchem Leonorens Herz hing — dem langentbehrten, einzigen, mit einer ungestümen Leidenschaft geliebten Bruder.</p><lb/> <p>Um Leonorens Lage zu erklären, müssen wir den Leser einen Blick in die letzten Blätter der Familienchronik des Hauses Windschrot thun lassen. Was auf den früheren Blättern steht, ist ohne Interesse für ihn; es ist darin von nichts Anderem die Rede, als von sehr tapfern Rittern und gestrengen Gutsherren, von züchtigen Frauen und ins Kloster gegangenen Tanten, von erlegten Hirschen mit höchst seltsamen Geweihen, von Geburten und Hochzeiten und vielen andern der Familie zu Ruhm und Ehren ausgeschlagenen Ereignissen dieser Art. Erst mit dem Vater Leonorens erhebt sich aus der reichen Nomenclatur heimgegangener Barone von Windschrot eine originelle und ganz aus der Art schlagende Physiognomie.</p><lb/> <p>Stephan Heribert von Windschrot war nämlich schon als Knabe ein schwer zu lenkender Querkopf. Es war nicht möglich gewesen, von den ehrwürdigen und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
in die grünen Laubwolken vor den Fenstern zu blicken, welche im Abendwinde hin- und herschwammen.
Das Herz war ihr unendlich schwer. Leonore stand vor einer furchtbaren Aufgabe, welche sie sich zu lösen vorgenommen und an der ihre Kräfte zu erlahmen drohten. Und doch — sie durften — sie sollten nicht erlahmen, diese Kräfte — das Opfer, welches sie bringen sollten, galt ja dem einzigen Wesen auf Erden, an welchem Leonorens Herz hing — dem langentbehrten, einzigen, mit einer ungestümen Leidenschaft geliebten Bruder.
Um Leonorens Lage zu erklären, müssen wir den Leser einen Blick in die letzten Blätter der Familienchronik des Hauses Windschrot thun lassen. Was auf den früheren Blättern steht, ist ohne Interesse für ihn; es ist darin von nichts Anderem die Rede, als von sehr tapfern Rittern und gestrengen Gutsherren, von züchtigen Frauen und ins Kloster gegangenen Tanten, von erlegten Hirschen mit höchst seltsamen Geweihen, von Geburten und Hochzeiten und vielen andern der Familie zu Ruhm und Ehren ausgeschlagenen Ereignissen dieser Art. Erst mit dem Vater Leonorens erhebt sich aus der reichen Nomenclatur heimgegangener Barone von Windschrot eine originelle und ganz aus der Art schlagende Physiognomie.
Stephan Heribert von Windschrot war nämlich schon als Knabe ein schwer zu lenkender Querkopf. Es war nicht möglich gewesen, von den ehrwürdigen und
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