Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Sie hatte nichts, nichts auf Erden mehr, das sie nicht verachten mußte! Dieser Bruder! Und wie hatte sie ihn geliebt, was nicht für ihn gethan, geopfert, geduldet -- welch ein Mensch war er! Diese Helden in der vollen Glorie, welche ihr poesiedurstiges Herz um ihre Häupter geschlungen -- diese Söhne des heiligen Ludwig -- sie hatten das gleißende Scharlachkleid abgeworfen -- und standen nun da, jammervolle Wichte, zu erbärmlich, um nur mit Anstand den Fluch tragen zu können, den ein ganzes Volk ihnen nachschleuderte. Und ihr Vater! Und sie selbst! so adelstolz und doch -- auf welchem Boden aufgewachsen! so hochfliegend in ihren Gedanken, und jetzt so gedemüthigt! Es ging eine ganze Welt vor ihren Augen in Trümmer, die Welt ihres Herzens, die Welt ihrer Liebe. Leonore durchlebte eine furchtbare Stunde. Der Tag neigte sich zu Ende. Es ward tiefe Dämmerung im Walde. Leonore sah auf und erschrak. Wohin sollte sie sich wenden? Ihr graute vor dem Heimkehren nach Windschrot. Sie wollte ihren Bruder nicht wiedersehen -- nie, nimmer! Aber wo sollte sie die Nacht bleiben, um den Tag zu erwarten, an dem sie sich zu ihrer Tante flüchten wollte? Ihr Seelenschmerz war zu groß, als daß er sich hätte durch Thränen erleichtern können; aber was er Sie hatte nichts, nichts auf Erden mehr, das sie nicht verachten mußte! Dieser Bruder! Und wie hatte sie ihn geliebt, was nicht für ihn gethan, geopfert, geduldet — welch ein Mensch war er! Diese Helden in der vollen Glorie, welche ihr poesiedurstiges Herz um ihre Häupter geschlungen — diese Söhne des heiligen Ludwig — sie hatten das gleißende Scharlachkleid abgeworfen — und standen nun da, jammervolle Wichte, zu erbärmlich, um nur mit Anstand den Fluch tragen zu können, den ein ganzes Volk ihnen nachschleuderte. Und ihr Vater! Und sie selbst! so adelstolz und doch — auf welchem Boden aufgewachsen! so hochfliegend in ihren Gedanken, und jetzt so gedemüthigt! Es ging eine ganze Welt vor ihren Augen in Trümmer, die Welt ihres Herzens, die Welt ihrer Liebe. Leonore durchlebte eine furchtbare Stunde. Der Tag neigte sich zu Ende. Es ward tiefe Dämmerung im Walde. Leonore sah auf und erschrak. Wohin sollte sie sich wenden? Ihr graute vor dem Heimkehren nach Windschrot. Sie wollte ihren Bruder nicht wiedersehen — nie, nimmer! Aber wo sollte sie die Nacht bleiben, um den Tag zu erwarten, an dem sie sich zu ihrer Tante flüchten wollte? Ihr Seelenschmerz war zu groß, als daß er sich hätte durch Thränen erleichtern können; aber was er <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="9"> <pb facs="#f0112"/> <p>Sie hatte nichts, nichts auf Erden mehr, das sie nicht verachten mußte!</p><lb/> <p>Dieser Bruder! Und wie hatte sie ihn geliebt, was nicht für ihn gethan, geopfert, geduldet — welch ein Mensch war er!</p><lb/> <p>Diese Helden in der vollen Glorie, welche ihr poesiedurstiges Herz um ihre Häupter geschlungen — diese Söhne des heiligen Ludwig — sie hatten das gleißende Scharlachkleid abgeworfen — und standen nun da, jammervolle Wichte, zu erbärmlich, um nur mit Anstand den Fluch tragen zu können, den ein ganzes Volk ihnen nachschleuderte.</p><lb/> <p>Und ihr Vater!</p><lb/> <p>Und sie selbst! so adelstolz und doch — auf welchem Boden aufgewachsen! so hochfliegend in ihren Gedanken, und jetzt so gedemüthigt!</p><lb/> <p>Es ging eine ganze Welt vor ihren Augen in Trümmer, die Welt ihres Herzens, die Welt ihrer Liebe. Leonore durchlebte eine furchtbare Stunde.</p><lb/> <p>Der Tag neigte sich zu Ende. Es ward tiefe Dämmerung im Walde. Leonore sah auf und erschrak. Wohin sollte sie sich wenden? Ihr graute vor dem Heimkehren nach Windschrot. Sie wollte ihren Bruder nicht wiedersehen — nie, nimmer! Aber wo sollte sie die Nacht bleiben, um den Tag zu erwarten, an dem sie sich zu ihrer Tante flüchten wollte?</p><lb/> <p>Ihr Seelenschmerz war zu groß, als daß er sich hätte durch Thränen erleichtern können; aber was er<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0112]
Sie hatte nichts, nichts auf Erden mehr, das sie nicht verachten mußte!
Dieser Bruder! Und wie hatte sie ihn geliebt, was nicht für ihn gethan, geopfert, geduldet — welch ein Mensch war er!
Diese Helden in der vollen Glorie, welche ihr poesiedurstiges Herz um ihre Häupter geschlungen — diese Söhne des heiligen Ludwig — sie hatten das gleißende Scharlachkleid abgeworfen — und standen nun da, jammervolle Wichte, zu erbärmlich, um nur mit Anstand den Fluch tragen zu können, den ein ganzes Volk ihnen nachschleuderte.
Und ihr Vater!
Und sie selbst! so adelstolz und doch — auf welchem Boden aufgewachsen! so hochfliegend in ihren Gedanken, und jetzt so gedemüthigt!
Es ging eine ganze Welt vor ihren Augen in Trümmer, die Welt ihres Herzens, die Welt ihrer Liebe. Leonore durchlebte eine furchtbare Stunde.
Der Tag neigte sich zu Ende. Es ward tiefe Dämmerung im Walde. Leonore sah auf und erschrak. Wohin sollte sie sich wenden? Ihr graute vor dem Heimkehren nach Windschrot. Sie wollte ihren Bruder nicht wiedersehen — nie, nimmer! Aber wo sollte sie die Nacht bleiben, um den Tag zu erwarten, an dem sie sich zu ihrer Tante flüchten wollte?
Ihr Seelenschmerz war zu groß, als daß er sich hätte durch Thränen erleichtern können; aber was er
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