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Schuchardt, Hugo: Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker. Berlin, 1885.

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der Labialisirung des benachbarten Vocals spielen daher
eine ganze Reihe von accessorischen Bedingungen mit.
Delbrück3 giebt die Existenz völlig vereinzelter Fälle
von Lautwandel zu, die also "nicht unter den Begriff
des Gesetzes fallen"; wie verträgt sich das mit dem jung-
grammatischen Satz dass aller Lautwandel ausnahms-
losen Gesetzen unterliegt? -- Wir haben bisher bei unse-
ren Erörterungen über die Gleichheit der lautlichen Be-
dingungen einen bestimmten zeitlichen Durchschnitt der
Sprache angenommen, es fragt sich nun: bleiben die laut-
lichen Bedingungen eines Lautgesetzes, mögen sie wie
immer beschaffen sein, im Laufe der Zeiten constant?
Ich will darauf ohne Weiteres mit einem Beispiel ant-
worten. Einem gallo-vulgärlat. an (klassischlat. an und a
vor einfachem Consonanten) entspricht neufranz. e (bald
offenes bald geschlossenes, doch ist dieser Unterschied
hier unwesentlich), also chef, feve, pre, tel, mer, nez,
eme, lene
= caput, faba, prato, tale, mare, naso, amat,
lana
. Der folgende Consonant erscheint hier also ganz
gleichgültig, nicht aber im Altfranzösischen (das sich
noch in der heutigen Orthographie wiederspiegelt):
chef u. s. w., jedoch aime, laine. Wenn nun vor m
und n an durch ai zu e geworden ist, kann dies nicht
auch vor den anderen Consonanten geschehen sein?
Und wenn man ursprünglich chaif, faive, tail, mair
sagte, so ist wiederum für eine etwas jüngere Periode
chaif, faive, tel, mer denkbar, sodass in Beziehung auf
die Monophthonirung des aus a entstandenen ai ver-
schiedene Bedingungsstufen vorliegen würden. An-
dernfalls müssen wir verschiedene Lautgesetze anneh-
men, sodass hinter der heutigen Gleichheit sich auf
jeden Fall eine Verschiedenheit birgt. Wenn nun aus
der Gegenüberstellung von Lautformenreihen die durch

der Labialisirung des benachbarten Vocals spielen daher
eine ganze Reihe von accessorischen Bedingungen mit.
Delbrück3 giebt die Existenz völlig vereinzelter Fälle
von Lautwandel zu, die also „nicht unter den Begriff
des Gesetzes fallen“; wie verträgt sich das mit dem jung-
grammatischen Satz dass aller Lautwandel ausnahms-
losen Gesetzen unterliegt? — Wir haben bisher bei unse-
ren Erörterungen über die Gleichheit der lautlichen Be-
dingungen einen bestimmten zeitlichen Durchschnitt der
Sprache angenommen, es fragt sich nun: bleiben die laut-
lichen Bedingungen eines Lautgesetzes, mögen sie wie
immer beschaffen sein, im Laufe der Zeiten constant?
Ich will darauf ohne Weiteres mit einem Beispiel ant-
worten. Einem gallo-vulgärlat. (klassischlat. ā́ und ắ
vor einfachem Consonanten) entspricht neufranz. e (bald
offenes bald geschlossenes, doch ist dieser Unterschied
hier unwesentlich), also chef, fève, pré, tel, mer, nez,
ème, lène
= caput, faba, prato, tale, mare, naso, amat,
lana
. Der folgende Consonant erscheint hier also ganz
gleichgültig, nicht aber im Altfranzösischen (das sich
noch in der heutigen Orthographie wiederspiegelt):
chef u. s. w., jedoch áime, láine. Wenn nun vor m
und n ā durch ai zu e geworden ist, kann dies nicht
auch vor den anderen Consonanten geschehen sein?
Und wenn man ursprünglich chaif, faive, tail, mair
sagte, so ist wiederum für eine etwas jüngere Periode
chaif, faive, tel, mer denkbar, sodass in Beziehung auf
die Monophthonirung des aus a entstandenen ai ver-
schiedene Bedingungsstufen vorliegen würden. An-
dernfalls müssen wir verschiedene Lautgesetze anneh-
men, sodass hinter der heutigen Gleichheit sich auf
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[21/0033] der Labialisirung des benachbarten Vocals spielen daher eine ganze Reihe von accessorischen Bedingungen mit. Delbrück3 giebt die Existenz völlig vereinzelter Fälle von Lautwandel zu, die also „nicht unter den Begriff des Gesetzes fallen“; wie verträgt sich das mit dem jung- grammatischen Satz dass aller Lautwandel ausnahms- losen Gesetzen unterliegt? — Wir haben bisher bei unse- ren Erörterungen über die Gleichheit der lautlichen Be- dingungen einen bestimmten zeitlichen Durchschnitt der Sprache angenommen, es fragt sich nun: bleiben die laut- lichen Bedingungen eines Lautgesetzes, mögen sie wie immer beschaffen sein, im Laufe der Zeiten constant? Ich will darauf ohne Weiteres mit einem Beispiel ant- worten. Einem gallo-vulgärlat. ā (klassischlat. ā́ und ắ vor einfachem Consonanten) entspricht neufranz. e (bald offenes bald geschlossenes, doch ist dieser Unterschied hier unwesentlich), also chef, fève, pré, tel, mer, nez, ème, lène = caput, faba, prato, tale, mare, naso, amat, lana. Der folgende Consonant erscheint hier also ganz gleichgültig, nicht aber im Altfranzösischen (das sich noch in der heutigen Orthographie wiederspiegelt): chef u. s. w., jedoch áime, láine. Wenn nun vor m und n ā durch ai zu e geworden ist, kann dies nicht auch vor den anderen Consonanten geschehen sein? Und wenn man ursprünglich chaif, faive, tail, mair sagte, so ist wiederum für eine etwas jüngere Periode chaif, faive, tel, mer denkbar, sodass in Beziehung auf die Monophthonirung des aus a entstandenen ai ver- schiedene Bedingungsstufen vorliegen würden. An- dernfalls müssen wir verschiedene Lautgesetze anneh- men, sodass hinter der heutigen Gleichheit sich auf jeden Fall eine Verschiedenheit birgt. Wenn nun aus der Gegenüberstellung von Lautformenreihen die durch

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Zitationshilfe: Schuchardt, Hugo: Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker. Berlin, 1885, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuchardt_lautgesetze_1885/33>, abgerufen am 18.04.2024.