Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubin, Ossip: Etiquette. Eine Rococo-Arabeske. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

grell herunter, es ist fast tageshell. Das Lied der Irrsinnigen klingt durch die Nacht - die Unglückliche steht am Fenster, und da sie Julie erblickt, lacht sie und wirft Kußhändchen in den Garten hinaus.

Julie drückt sich tiefer in den Schatten, stürzt in die Abtei. Was soll sie thun, an wen soll sie sich wenden.

Sie will den Weg suchen zur Äbtissin, aber wie kann sie die stören um diese Stunde - sie muß sich an eine Andere wenden. Was aber wird sie sagen? ... Ja, sie ist unschuldig, hat sich weder an sich versündigt noch an Gott, nur die äußerliche conventionelle Form hat sie verletzt, und gegen die Etiquette hat sie gefrevelt. - Doch das Gespenst der Etiquette richtet sich dräuend vor ihr auf und legt ihr die Hand auf die Lippen und zischt ihr ins Ohr: "Deine Unschuld zählt nicht in diesem Falle. Viel besser wär's, Du hättest Dich an Gott versündigt und an Dir, als an mir. Denn Gott verzeiht Dir immer, und Dein Gewissen verzeiht Dir manchmal, aber ich verzeihe nie; - drum füge Dich in die Buße, die

grell herunter, es ist fast tageshell. Das Lied der Irrsinnigen klingt durch die Nacht – die Unglückliche steht am Fenster, und da sie Julie erblickt, lacht sie und wirft Kußhändchen in den Garten hinaus.

Julie drückt sich tiefer in den Schatten, stürzt in die Abtei. Was soll sie thun, an wen soll sie sich wenden.

Sie will den Weg suchen zur Äbtissin, aber wie kann sie die stören um diese Stunde – sie muß sich an eine Andere wenden. Was aber wird sie sagen? … Ja, sie ist unschuldig, hat sich weder an sich versündigt noch an Gott, nur die äußerliche conventionelle Form hat sie verletzt, und gegen die Etiquette hat sie gefrevelt. – Doch das Gespenst der Etiquette richtet sich dräuend vor ihr auf und legt ihr die Hand auf die Lippen und zischt ihr ins Ohr: „Deine Unschuld zählt nicht in diesem Falle. Viel besser wär’s, Du hättest Dich an Gott versündigt und an Dir, als an mir. Denn Gott verzeiht Dir immer, und Dein Gewissen verzeiht Dir manchmal, aber ich verzeihe nie; – drum füge Dich in die Buße, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0095" n="95"/>
grell herunter, es ist fast tageshell. Das Lied der Irrsinnigen klingt durch die Nacht &#x2013; die Unglückliche steht am Fenster, und da sie Julie erblickt, lacht sie und wirft Kußhändchen in den Garten hinaus.</p>
        <p>Julie drückt sich tiefer in den Schatten, stürzt in die Abtei. Was soll sie thun, an wen soll sie sich wenden.</p>
        <p>Sie will den Weg suchen zur Äbtissin, aber wie kann sie die stören um diese Stunde &#x2013; sie muß sich an eine Andere wenden. Was aber wird sie sagen? &#x2026; Ja, sie ist unschuldig, hat sich weder an sich versündigt noch an Gott, nur die äußerliche conventionelle Form hat sie verletzt, und gegen die Etiquette hat sie gefrevelt. &#x2013; Doch das Gespenst der Etiquette richtet sich dräuend vor ihr auf und legt ihr die Hand auf die Lippen und zischt ihr ins Ohr: &#x201E;Deine Unschuld zählt nicht in diesem Falle. Viel besser wär&#x2019;s, Du hättest Dich an Gott versündigt und an Dir, als an mir. Denn Gott verzeiht Dir immer, und Dein Gewissen verzeiht Dir manchmal, aber ich verzeihe nie; &#x2013; drum füge Dich in die Buße, die
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0095] grell herunter, es ist fast tageshell. Das Lied der Irrsinnigen klingt durch die Nacht – die Unglückliche steht am Fenster, und da sie Julie erblickt, lacht sie und wirft Kußhändchen in den Garten hinaus. Julie drückt sich tiefer in den Schatten, stürzt in die Abtei. Was soll sie thun, an wen soll sie sich wenden. Sie will den Weg suchen zur Äbtissin, aber wie kann sie die stören um diese Stunde – sie muß sich an eine Andere wenden. Was aber wird sie sagen? … Ja, sie ist unschuldig, hat sich weder an sich versündigt noch an Gott, nur die äußerliche conventionelle Form hat sie verletzt, und gegen die Etiquette hat sie gefrevelt. – Doch das Gespenst der Etiquette richtet sich dräuend vor ihr auf und legt ihr die Hand auf die Lippen und zischt ihr ins Ohr: „Deine Unschuld zählt nicht in diesem Falle. Viel besser wär’s, Du hättest Dich an Gott versündigt und an Dir, als an mir. Denn Gott verzeiht Dir immer, und Dein Gewissen verzeiht Dir manchmal, aber ich verzeihe nie; – drum füge Dich in die Buße, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Die großen Umlaute ”Ue“ der Vorlage wurden der heutigen Schreibweise ”Ü“ angepasst.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_etiquette_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_etiquette_1887/95
Zitationshilfe: Schubin, Ossip: Etiquette. Eine Rococo-Arabeske. Berlin, 1887, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_etiquette_1887/95>, abgerufen am 02.05.2024.