Die Wurzel jenes alten Mißverständnisses liegt tief. Schon dem Alterthum war jener fleischgeworde- ne Gott, der ein Führer der Seelen aus der Sinn- lichkeit zurück zu ihrem reinen, göttlichen Ursprung, ein Beyspiel aller Verläugnung sinnlicher Selbstsucht und wohlthätiger Aufopferung für Alle war, zugleich Hervorbringer und Herrscher der sinnlichen Lustregion. Er war ein Vertheiler der Speise, und wie die ganze Natur sichtbare Offenbarung jenes göttlichen Wortes -- Leib desselben war, so theilte sich dieser Leib dem Menschen in jeder Speise, jedem Trank, jedem Sin- nesgenusse mit. Er war deßhalb der Milde, der Gü- tige, der freygebige Austheiler sinnlicher Freuden, in dessen genußvollem Reiche die körperliche Natur es sich wohl seyn ließ -- der freundliche Spender süßer Won- ne. *) Freylich hatte derselbe Sinnesgott sein Fleisch auch in einem andern Sinne vertheilt, war ursprüng- lich der Geber anderer Freuden, anderer Genüsse.
Die Seelen, herabgesunken aus der reinen, hei- teren Region des Ursprungs, in das lustige Sinnen- reich des Dionysos, vergaßen gar bald in dieser war- men behaglichen Welt körperlichen Genusses, die Rück- kehr in die Heymath und die Heimath selber. Aber eben der Gott, durch dessen Spiegel die Sehnsucht nach der niederen, gröberen Region in ihnen entzün- det war, und der sie in seiner Sinnenwelt die Heimat[h] vergessen machte, war ja auch der Führer in diese zurück, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und
der
*)Creuzer, a. a. O. III. 453. u. s. f.
Die Wurzel jenes alten Mißverſtaͤndniſſes liegt tief. Schon dem Alterthum war jener fleiſchgeworde- ne Gott, der ein Fuͤhrer der Seelen aus der Sinn- lichkeit zuruͤck zu ihrem reinen, goͤttlichen Urſprung, ein Beyſpiel aller Verlaͤugnung ſinnlicher Selbſtſucht und wohlthaͤtiger Aufopferung fuͤr Alle war, zugleich Hervorbringer und Herrſcher der ſinnlichen Luſtregion. Er war ein Vertheiler der Speiſe, und wie die ganze Natur ſichtbare Offenbarung jenes goͤttlichen Wortes — Leib deſſelben war, ſo theilte ſich dieſer Leib dem Menſchen in jeder Speiſe, jedem Trank, jedem Sin- nesgenuſſe mit. Er war deßhalb der Milde, der Guͤ- tige, der freygebige Austheiler ſinnlicher Freuden, in deſſen genußvollem Reiche die koͤrperliche Natur es ſich wohl ſeyn ließ — der freundliche Spender ſuͤßer Won- ne. *) Freylich hatte derſelbe Sinnesgott ſein Fleiſch auch in einem andern Sinne vertheilt, war urſpruͤng- lich der Geber anderer Freuden, anderer Genuͤſſe.
Die Seelen, herabgeſunken aus der reinen, hei- teren Region des Urſprungs, in das luſtige Sinnen- reich des Dionyſos, vergaßen gar bald in dieſer war- men behaglichen Welt koͤrperlichen Genuſſes, die Ruͤck- kehr in die Heymath und die Heimath ſelber. Aber eben der Gott, durch deſſen Spiegel die Sehnſucht nach der niederen, groͤberen Region in ihnen entzuͤn- det war, und der ſie in ſeiner Sinnenwelt die Heimat[h] vergeſſen machte, war ja auch der Fuͤhrer in dieſe zuruͤck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und
der
*)Creuzer, a. a. O. III. 453. u. ſ. f.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0085"n="75"/><p>Die Wurzel jenes alten Mißverſtaͤndniſſes liegt<lb/>
tief. Schon dem Alterthum war jener fleiſchgeworde-<lb/>
ne Gott, der ein Fuͤhrer der Seelen aus der Sinn-<lb/>
lichkeit zuruͤck zu ihrem reinen, goͤttlichen Urſprung,<lb/>
ein Beyſpiel aller Verlaͤugnung ſinnlicher Selbſtſucht<lb/>
und wohlthaͤtiger Aufopferung fuͤr Alle war, zugleich<lb/>
Hervorbringer und Herrſcher der ſinnlichen Luſtregion.<lb/>
Er war ein Vertheiler der Speiſe, und wie die ganze<lb/>
Natur ſichtbare Offenbarung jenes goͤttlichen Wortes<lb/>— Leib deſſelben war, ſo theilte ſich dieſer Leib dem<lb/>
Menſchen in jeder Speiſe, jedem Trank, jedem Sin-<lb/>
nesgenuſſe mit. Er war deßhalb der Milde, der Guͤ-<lb/>
tige, der freygebige Austheiler ſinnlicher Freuden, in<lb/>
deſſen genußvollem Reiche die koͤrperliche Natur es ſich<lb/>
wohl ſeyn ließ — der freundliche Spender ſuͤßer Won-<lb/>
ne. <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#g">Creuzer,</hi> a. a. O. <hirendition="#aq">III.</hi> 453. u. ſ. f.</note> Freylich hatte derſelbe Sinnesgott ſein Fleiſch<lb/>
auch in einem andern Sinne vertheilt, war urſpruͤng-<lb/>
lich der Geber anderer Freuden, anderer Genuͤſſe.</p><lb/><p>Die Seelen, herabgeſunken aus der reinen, hei-<lb/>
teren Region des Urſprungs, in das luſtige Sinnen-<lb/>
reich des Dionyſos, vergaßen gar bald in dieſer war-<lb/>
men behaglichen Welt koͤrperlichen Genuſſes, die Ruͤck-<lb/>
kehr in die Heymath und die Heimath ſelber. Aber<lb/>
eben der Gott, durch deſſen Spiegel die Sehnſucht<lb/>
nach der niederen, groͤberen Region in ihnen entzuͤn-<lb/>
det war, und der ſie in ſeiner Sinnenwelt die Heimat<supplied>h</supplied><lb/>
vergeſſen machte, war ja auch der Fuͤhrer in dieſe<lb/>
zuruͤck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und<lb/><fwplace="bottom"type="catch">der</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[75/0085]
Die Wurzel jenes alten Mißverſtaͤndniſſes liegt
tief. Schon dem Alterthum war jener fleiſchgeworde-
ne Gott, der ein Fuͤhrer der Seelen aus der Sinn-
lichkeit zuruͤck zu ihrem reinen, goͤttlichen Urſprung,
ein Beyſpiel aller Verlaͤugnung ſinnlicher Selbſtſucht
und wohlthaͤtiger Aufopferung fuͤr Alle war, zugleich
Hervorbringer und Herrſcher der ſinnlichen Luſtregion.
Er war ein Vertheiler der Speiſe, und wie die ganze
Natur ſichtbare Offenbarung jenes goͤttlichen Wortes
— Leib deſſelben war, ſo theilte ſich dieſer Leib dem
Menſchen in jeder Speiſe, jedem Trank, jedem Sin-
nesgenuſſe mit. Er war deßhalb der Milde, der Guͤ-
tige, der freygebige Austheiler ſinnlicher Freuden, in
deſſen genußvollem Reiche die koͤrperliche Natur es ſich
wohl ſeyn ließ — der freundliche Spender ſuͤßer Won-
ne. *) Freylich hatte derſelbe Sinnesgott ſein Fleiſch
auch in einem andern Sinne vertheilt, war urſpruͤng-
lich der Geber anderer Freuden, anderer Genuͤſſe.
Die Seelen, herabgeſunken aus der reinen, hei-
teren Region des Urſprungs, in das luſtige Sinnen-
reich des Dionyſos, vergaßen gar bald in dieſer war-
men behaglichen Welt koͤrperlichen Genuſſes, die Ruͤck-
kehr in die Heymath und die Heimath ſelber. Aber
eben der Gott, durch deſſen Spiegel die Sehnſucht
nach der niederen, groͤberen Region in ihnen entzuͤn-
det war, und der ſie in ſeiner Sinnenwelt die Heimath
vergeſſen machte, war ja auch der Fuͤhrer in dieſe
zuruͤck, reichte ihnen jenen Becher der Weisheit und
der
*) Creuzer, a. a. O. III. 453. u. ſ. f.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/85>, abgerufen am 28.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.