Feste dieser Göttin, welche alle Schrecken und alle Liebreize in sich vereint, ihr schweres Bildniß auf ei- nem Wagen mit schneidenden Rädern nach dem Gan- ges geführt wird, sieht man, mit Blüthen begränzt, in frölichem Wahnsinn, als ob sie zum Hochzeitaltar giengen, eine Schaar Begeisterter, welche sich unter die Räder des Wagens werfen, und bey dem Klange der Hörner von den Messern derselben in Stücke zer- schnitten, sich selber zum Opfer bringen. -- Auf dem Berge Meru, auf goldenem Tische, steht in der ewi- gen Lotosblüthe das Symbol des Gottes Shiven, wel- ches das in den griechischen Mysterien verehrte des ir- dischen Ursprungs ist *) zugleich mit dem heiligen Dreyeck, dem Symbol der zerstörenden und zeugen- den Göttin Bhovani. **) Diese Vereinigung des Zer- störenden und Zeugenden, des Todes und der Liebe, ist nach dem Ausspruch eines indischen Dichters nicht allein den Menschen, sondern selbst den Göttern als ein Räthsel voll tiefen heiligen Sinnes hingestellet.
Endlich, damit ich das Uebrige kurz fasse, ge- hen, abgesehen von etwas Aehnlichem bey den Mexi-
noch mehr alle Menschenopfer, in der indischen Mytholo- gie sehr spät entstanden und gehören allerdings schon den Zeiten des Verfalls an.
*) Ein Lingam.
**) Dieses wird für ein Symbol der weiblichen Zeugungs- kraft gehalten.
Feſte dieſer Goͤttin, welche alle Schrecken und alle Liebreize in ſich vereint, ihr ſchweres Bildniß auf ei- nem Wagen mit ſchneidenden Raͤdern nach dem Gan- ges gefuͤhrt wird, ſieht man, mit Bluͤthen begraͤnzt, in froͤlichem Wahnſinn, als ob ſie zum Hochzeitaltar giengen, eine Schaar Begeiſterter, welche ſich unter die Raͤder des Wagens werfen, und bey dem Klange der Hoͤrner von den Meſſern derſelben in Stuͤcke zer- ſchnitten, ſich ſelber zum Opfer bringen. — Auf dem Berge Meru, auf goldenem Tiſche, ſteht in der ewi- gen Lotosbluͤthe das Symbol des Gottes Shiven, wel- ches das in den griechiſchen Myſterien verehrte des ir- diſchen Urſprungs iſt *) zugleich mit dem heiligen Dreyeck, dem Symbol der zerſtoͤrenden und zeugen- den Goͤttin Bhovani. **) Dieſe Vereinigung des Zer- ſtoͤrenden und Zeugenden, des Todes und der Liebe, iſt nach dem Ausſpruch eines indiſchen Dichters nicht allein den Menſchen, ſondern ſelbſt den Goͤttern als ein Raͤthſel voll tiefen heiligen Sinnes hingeſtellet.
Endlich, damit ich das Uebrige kurz faſſe, ge- hen, abgeſehen von etwas Aehnlichem bey den Mexi-
noch mehr alle Menſchenopfer, in der indiſchen Mytholo- gie ſehr ſpaͤt entſtanden und gehoͤren allerdings ſchon den Zeiten des Verfalls an.
*) Ein Lingam.
**) Dieſes wird fuͤr ein Symbol der weiblichen Zeugungs- kraft gehalten.
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Feſte dieſer Goͤttin, welche alle Schrecken und alle
Liebreize in ſich vereint, ihr ſchweres Bildniß auf ei-
nem Wagen mit ſchneidenden Raͤdern nach dem Gan-
ges gefuͤhrt wird, ſieht man, mit Bluͤthen begraͤnzt,
in froͤlichem Wahnſinn, als ob ſie zum Hochzeitaltar
giengen, eine Schaar Begeiſterter, welche ſich unter
die Raͤder des Wagens werfen, und bey dem Klange
der Hoͤrner von den Meſſern derſelben in Stuͤcke zer-
ſchnitten, ſich ſelber zum Opfer bringen. — Auf dem
Berge Meru, auf goldenem Tiſche, ſteht in der ewi-
gen Lotosbluͤthe das Symbol des Gottes Shiven, wel-
ches das in den griechiſchen Myſterien verehrte des ir-
diſchen Urſprungs iſt *) zugleich mit dem heiligen
Dreyeck, dem Symbol der zerſtoͤrenden und zeugen-
den Goͤttin Bhovani. **) Dieſe Vereinigung des Zer-
ſtoͤrenden und Zeugenden, des Todes und der Liebe,
iſt nach dem Ausſpruch eines indiſchen Dichters nicht
allein den Menſchen, ſondern ſelbſt den Goͤttern als
ein Raͤthſel voll tiefen heiligen Sinnes hingeſtellet.
Endlich, damit ich das Uebrige kurz faſſe, ge-
hen, abgeſehen von etwas Aehnlichem bey den Mexi-
**)
*) Ein Lingam.
**) Dieſes wird fuͤr ein Symbol der weiblichen Zeugungs-
kraft gehalten.
**) noch mehr alle Menſchenopfer, in der indiſchen Mytholo-
gie ſehr ſpaͤt entſtanden und gehoͤren allerdings ſchon den
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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/91>, abgerufen am 27.11.2024.
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