Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

bald minder deutlichen Spuren, ein Streben, das in
dem jetzigen Daseyn ohne Erfüllung bleiben muß, wohl
aber in einem künftigen sich vollenden wird. Es greift
überall die höhere geistigere Welt eines künftigen Da-
seyns ein. Jener höhere Keim, der noch ein Fremd-
ling in den jetzigen Lebensverhältnissen ist, scheint ge-
rade in den höchsten Augenblicken des jetzigen Daseyns,
bey der Pflanze zum Beyspiel in dem höchsten Moment
des Blühens, aufzuwachen, und diese Augenblicke schei-
nen deshalb, wie ich schon früher erwähnte, für das
individuelle Leben so zerstörend, weil der höhere fremd-
artige Keim, die alte, für ihn gleichsam zu enge, zu
unvollkommene Hülle, selber auflöst. Hierdurch wird
das Gemüth auch mit jenem tiefen Sehnen, mit jenem
Streben in seinem Innern ausgesöhnt, was doch durch-
aus ein armer verwaister Fremdling in dem jetzigen Da-
seyn scheint, und welches in ihm nur selten oder nie
die gesuchte Gnüge findet. Es greift nur zu offenbar,
auch bey dem Menschen, in das jetzige unvollkommnere
Daseyn, schon die Anlage eines künftigen höheren ein.
Wer hat nicht davon gehört, wie bey Blödsinnigen,
wenn selbst noch nach dem Tode das Gesicht jenes thie-
rische Aussehen, jene düstere und gleichsam verschlos-
sene Zusammengezogenheit aller seiner Theile behielt,
die Mienen sogleich sich veredeln, und das ganze Ge-
sicht sich zuweilen fast schön entfaltet, sobald man von
dem eingeengten Gehirn den oberen Theil des Schedels
hinweggenommen? Der Schedel, der sich in der ersten
Hälfte des Lebens genau nach der Gestalt des Gehirus

bald minder deutlichen Spuren, ein Streben, das in
dem jetzigen Daſeyn ohne Erfuͤllung bleiben muß, wohl
aber in einem kuͤnftigen ſich vollenden wird. Es greift
uͤberall die hoͤhere geiſtigere Welt eines kuͤnftigen Da-
ſeyns ein. Jener hoͤhere Keim, der noch ein Fremd-
ling in den jetzigen Lebensverhaͤltniſſen iſt, ſcheint ge-
rade in den hoͤchſten Augenblicken des jetzigen Daſeyns,
bey der Pflanze zum Beyſpiel in dem hoͤchſten Moment
des Bluͤhens, aufzuwachen, und dieſe Augenblicke ſchei-
nen deshalb, wie ich ſchon fruͤher erwaͤhnte, fuͤr das
individuelle Leben ſo zerſtoͤrend, weil der hoͤhere fremd-
artige Keim, die alte, fuͤr ihn gleichſam zu enge, zu
unvollkommene Huͤlle, ſelber aufloͤſt. Hierdurch wird
das Gemuͤth auch mit jenem tiefen Sehnen, mit jenem
Streben in ſeinem Innern ausgeſoͤhnt, was doch durch-
aus ein armer verwaiſter Fremdling in dem jetzigen Da-
ſeyn ſcheint, und welches in ihm nur ſelten oder nie
die geſuchte Gnuͤge findet. Es greift nur zu offenbar,
auch bey dem Menſchen, in das jetzige unvollkommnere
Daſeyn, ſchon die Anlage eines kuͤnftigen hoͤheren ein.
Wer hat nicht davon gehoͤrt, wie bey Bloͤdſinnigen,
wenn ſelbſt noch nach dem Tode das Geſicht jenes thie-
riſche Ausſehen, jene duͤſtere und gleichſam verſchloſ-
ſene Zuſammengezogenheit aller ſeiner Theile behielt,
die Mienen ſogleich ſich veredeln, und das ganze Ge-
ſicht ſich zuweilen faſt ſchoͤn entfaltet, ſobald man von
dem eingeengten Gehirn den oberen Theil des Schedels
hinweggenommen? Der Schedel, der ſich in der erſten
Haͤlfte des Lebens genau nach der Geſtalt des Gehirus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0332" n="318"/>
bald minder deutlichen Spuren, ein Streben, das in<lb/>
dem jetzigen Da&#x017F;eyn ohne Erfu&#x0364;llung bleiben muß, wohl<lb/>
aber in einem ku&#x0364;nftigen &#x017F;ich vollenden wird. Es greift<lb/>
u&#x0364;berall die ho&#x0364;here gei&#x017F;tigere Welt eines ku&#x0364;nftigen Da-<lb/>
&#x017F;eyns ein. Jener ho&#x0364;here Keim, der noch ein Fremd-<lb/>
ling in den jetzigen Lebensverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, &#x017F;cheint ge-<lb/>
rade in den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Augenblicken des jetzigen Da&#x017F;eyns,<lb/>
bey der Pflanze zum Bey&#x017F;piel in dem ho&#x0364;ch&#x017F;ten Moment<lb/>
des Blu&#x0364;hens, aufzuwachen, und die&#x017F;e Augenblicke &#x017F;chei-<lb/>
nen deshalb, wie ich &#x017F;chon fru&#x0364;her erwa&#x0364;hnte, fu&#x0364;r das<lb/>
individuelle Leben &#x017F;o zer&#x017F;to&#x0364;rend, weil der ho&#x0364;here fremd-<lb/>
artige Keim, die alte, fu&#x0364;r ihn gleich&#x017F;am zu enge, zu<lb/>
unvollkommene Hu&#x0364;lle, &#x017F;elber auflo&#x0364;&#x017F;t. Hierdurch wird<lb/>
das Gemu&#x0364;th auch mit jenem tiefen Sehnen, mit jenem<lb/>
Streben in &#x017F;einem Innern ausge&#x017F;o&#x0364;hnt, was doch durch-<lb/>
aus ein armer verwai&#x017F;ter Fremdling in dem jetzigen Da-<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;cheint, und welches in ihm nur &#x017F;elten oder nie<lb/>
die ge&#x017F;uchte Gnu&#x0364;ge findet. Es greift nur zu offenbar,<lb/>
auch bey dem Men&#x017F;chen, in das jetzige unvollkommnere<lb/>
Da&#x017F;eyn, &#x017F;chon die Anlage eines ku&#x0364;nftigen ho&#x0364;heren ein.<lb/>
Wer hat nicht davon geho&#x0364;rt, wie bey Blo&#x0364;d&#x017F;innigen,<lb/>
wenn &#x017F;elb&#x017F;t noch nach dem Tode das Ge&#x017F;icht jenes thie-<lb/>
ri&#x017F;che Aus&#x017F;ehen, jene du&#x0364;&#x017F;tere und gleich&#x017F;am ver&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ene Zu&#x017F;ammengezogenheit aller &#x017F;einer Theile behielt,<lb/>
die Mienen &#x017F;ogleich &#x017F;ich veredeln, und das ganze Ge-<lb/>
&#x017F;icht &#x017F;ich zuweilen fa&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;n entfaltet, &#x017F;obald man von<lb/>
dem eingeengten Gehirn den oberen Theil des Schedels<lb/>
hinweggenommen? Der Schedel, der &#x017F;ich in der er&#x017F;ten<lb/>
Ha&#x0364;lfte des Lebens genau nach der Ge&#x017F;talt des Gehirus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0332] bald minder deutlichen Spuren, ein Streben, das in dem jetzigen Daſeyn ohne Erfuͤllung bleiben muß, wohl aber in einem kuͤnftigen ſich vollenden wird. Es greift uͤberall die hoͤhere geiſtigere Welt eines kuͤnftigen Da- ſeyns ein. Jener hoͤhere Keim, der noch ein Fremd- ling in den jetzigen Lebensverhaͤltniſſen iſt, ſcheint ge- rade in den hoͤchſten Augenblicken des jetzigen Daſeyns, bey der Pflanze zum Beyſpiel in dem hoͤchſten Moment des Bluͤhens, aufzuwachen, und dieſe Augenblicke ſchei- nen deshalb, wie ich ſchon fruͤher erwaͤhnte, fuͤr das individuelle Leben ſo zerſtoͤrend, weil der hoͤhere fremd- artige Keim, die alte, fuͤr ihn gleichſam zu enge, zu unvollkommene Huͤlle, ſelber aufloͤſt. Hierdurch wird das Gemuͤth auch mit jenem tiefen Sehnen, mit jenem Streben in ſeinem Innern ausgeſoͤhnt, was doch durch- aus ein armer verwaiſter Fremdling in dem jetzigen Da- ſeyn ſcheint, und welches in ihm nur ſelten oder nie die geſuchte Gnuͤge findet. Es greift nur zu offenbar, auch bey dem Menſchen, in das jetzige unvollkommnere Daſeyn, ſchon die Anlage eines kuͤnftigen hoͤheren ein. Wer hat nicht davon gehoͤrt, wie bey Bloͤdſinnigen, wenn ſelbſt noch nach dem Tode das Geſicht jenes thie- riſche Ausſehen, jene duͤſtere und gleichſam verſchloſ- ſene Zuſammengezogenheit aller ſeiner Theile behielt, die Mienen ſogleich ſich veredeln, und das ganze Ge- ſicht ſich zuweilen faſt ſchoͤn entfaltet, ſobald man von dem eingeengten Gehirn den oberen Theil des Schedels hinweggenommen? Der Schedel, der ſich in der erſten Haͤlfte des Lebens genau nach der Geſtalt des Gehirus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/332
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/332>, abgerufen am 28.11.2024.