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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891.

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Sechzehnte Vorlesung.
konnten, wird darnach jetzt, im reinen Aussagenkalkul, entweder als
ein Theorem oder aber als ein Prinzip auftreten.

Ich bin übrigens wirklich im Zweifel, ob sich in solchem Grenzfalle
die Unterscheidung zwischen diesen Begriffen (von Definition, Axiom resp.
Prinzip und Theorem) noch strenge würde durchführen lassen. Man ver-
gleiche, was in § 51 in Bezug auf Herrn Dedekind's von ihm so ge-
nannten "Beweis" des Prinzips II gesagt ist. Man wird erkennen, dass es
bei der Frage wesentlich auf die Art ankommt, wie man den Begriff des
"Beweises" erfasst, denn nur durch das Vorhandensein oder die Möglichkeit
eines solchen soll sich das "Theorem" vor dem "Axiom" auszeichnen.

Verlangt man nun von dem "Beweise" -- denselben wol in dem ge-
bräuchlichsten Sinne (sonach etwas weiter) fassend -- nur die Herbei-
führung der subjektiven Überzeugung, dass die zu beweisende Behauptung
mit den Definitionen (und den eventuell ausserdem noch zuvor statuirten
Axiomen) in objektiver Denknotwendigkeit gegeben sei, so muss man in
unsrer gegenwärtigen Disziplin alles als "bewiesen" gelten lassen, sobald es
nur auf Grund gegebener Definitionen einleuchtet -- und zwar einerlei, auf
welchem Wege dieses Gefühl der Evidenz zustande kommt -- auch dann
insbesondere, wenn es sich unmittelbar aufdrängt. Wirkliche Axiome, wie
in Geometrie und Physik, sind hier ja gar nicht vorhanden, und Alles ist
mit den Definitionen nebst gewissen (das Zugeständniss der Wirklichkeit
des Definirten fordernden) Postulaten schon denknotwendig gegeben -- auch
Dasjenige, was wir hier (zur Unterscheidung von jenen eigentlichen Axiomen)
als "Prinzip" hinstellen.

Die Wissenschaft fasst den Begriff des "Beweises" schon enger als das
gemeine Leben, und zwar bei ihrem Fortschreiten ganz merklich immer
enger und enger; vor allem sind die Mathematiker auch wählerisch in den
Mitteln der Erkenntniss
geworden; noch mehr müss(t)en die Philosophen
es sein.

So lässt denn die Geometrie z. B. bei ihren Beweisführungen nur
mehr die logische Evidenz gelten; und schliesst die geometrische, welche
auf der uns zur zweiten Natur gewordenen Raumanschauung beruht, in
ihren höheren Teilen wenigstens, gewissenhaft aus.

Die Arithmetik ist nunmehr völlig von der Anschauung oder Voraus-
setzung vergleichbarer und messbarer Grössen frei geworden und auf rein
logische Grundlagen gestellt; sie hat sich besonders dank den Arbeiten von
H. Grassmann, G. Cantor, Weierstrass und Dedekind zu einem
Zweige der reinen Logik entwickelt.

Am engsten, sind wir genötigt, den Begriff des "Beweises" in der
Logik selbst zu fassen: die Arten, auf welche das Gefühl der Evidenz zu-
stande kommen kann, sollen hier zum Bewusstsein gebracht, schematisirt,
klassifizirt und rubrizirt werden. "Prinzipien" nannten wir solche Sätze
oder auch Schlussweisen, welche nicht auf früher registrirte nach eben-
solchen zurückgeführt wurden und nebenbei gesagt sich auf noch einfachere
Sätze überhaupt nicht reduziren zu lassen scheinen. "Theoreme" nannten
wir die Sätze, bei welchen solche Zurückführung -- der sog. "Beweis" --
gelang, und zwar lediglich unter bewusster Anwendung der registrirten

Sechzehnte Vorlesung.
konnten, wird darnach jetzt, im reinen Aussagenkalkul, entweder als
ein Theorem oder aber als ein Prinzip auftreten.

Ich bin übrigens wirklich im Zweifel, ob sich in solchem Grenzfalle
die Unterscheidung zwischen diesen Begriffen (von Definition, Axiom resp.
Prinzip und Theorem) noch strenge würde durchführen lassen. Man ver-
gleiche, was in § 51 in Bezug auf Herrn Dedekind’s von ihm so ge-
nannten „Beweis“ des Prinzips II gesagt ist. Man wird erkennen, dass es
bei der Frage wesentlich auf die Art ankommt, wie man den Begriff des
„Beweises“ erfasst, denn nur durch das Vorhandensein oder die Möglichkeit
eines solchen soll sich das „Theorem“ vor dem „Axiom“ auszeichnen.

Verlangt man nun von dem „Beweise“ — denselben wol in dem ge-
bräuchlichsten Sinne (sonach etwas weiter) fassend — nur die Herbei-
führung der subjektiven Überzeugung, dass die zu beweisende Behauptung
mit den Definitionen (und den eventuell ausserdem noch zuvor statuirten
Axiomen) in objektiver Denknotwendigkeit gegeben sei, so muss man in
unsrer gegenwärtigen Disziplin alles als „bewiesen“ gelten lassen, sobald es
nur auf Grund gegebener Definitionen einleuchtet — und zwar einerlei, auf
welchem Wege dieses Gefühl der Evidenz zustande kommt — auch dann
insbesondere, wenn es sich unmittelbar aufdrängt. Wirkliche Axiome, wie
in Geometrie und Physik, sind hier ja gar nicht vorhanden, und Alles ist
mit den Definitionen nebst gewissen (das Zugeständniss der Wirklichkeit
des Definirten fordernden) Postulaten schon denknotwendig gegeben — auch
Dasjenige, was wir hier (zur Unterscheidung von jenen eigentlichen Axiomen)
als „Prinzip“ hinstellen.

Die Wissenschaft fasst den Begriff des „Beweises“ schon enger als das
gemeine Leben, und zwar bei ihrem Fortschreiten ganz merklich immer
enger und enger; vor allem sind die Mathematiker auch wählerisch in den
Mitteln der Erkenntniss
geworden; noch mehr müss(t)en die Philosophen
es sein.

So lässt denn die Geometrie z. B. bei ihren Beweisführungen nur
mehr die logische Evidenz gelten; und schliesst die geometrische, welche
auf der uns zur zweiten Natur gewordenen Raumanschauung beruht, in
ihren höheren Teilen wenigstens, gewissenhaft aus.

Die Arithmetik ist nunmehr völlig von der Anschauung oder Voraus-
setzung vergleichbarer und messbarer Grössen frei geworden und auf rein
logische Grundlagen gestellt; sie hat sich besonders dank den Arbeiten von
H. Grassmann, G. Cantor, Weierstrass und Dedekind zu einem
Zweige der reinen Logik entwickelt.

Am engsten, sind wir genötigt, den Begriff des „Beweises“ in der
Logik selbst zu fassen: die Arten, auf welche das Gefühl der Evidenz zu-
stande kommen kann, sollen hier zum Bewusstsein gebracht, schematisirt,
klassifizirt und rubrizirt werden. „Prinzipien“ nannten wir solche Sätze
oder auch Schlussweisen, welche nicht auf früher registrirte nach eben-
solchen zurückgeführt wurden und nebenbei gesagt sich auf noch einfachere
Sätze überhaupt nicht reduziren zu lassen scheinen. „Theoreme“ nannten
wir die Sätze, bei welchen solche Zurückführung — der sog. „Beweis“
gelang, und zwar lediglich unter bewusster Anwendung der registrirten

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[54/0078] Sechzehnte Vorlesung. konnten, wird darnach jetzt, im reinen Aussagenkalkul, entweder als ein Theorem oder aber als ein Prinzip auftreten. Ich bin übrigens wirklich im Zweifel, ob sich in solchem Grenzfalle die Unterscheidung zwischen diesen Begriffen (von Definition, Axiom resp. Prinzip und Theorem) noch strenge würde durchführen lassen. Man ver- gleiche, was in § 51 in Bezug auf Herrn Dedekind’s von ihm so ge- nannten „Beweis“ des Prinzips II gesagt ist. Man wird erkennen, dass es bei der Frage wesentlich auf die Art ankommt, wie man den Begriff des „Beweises“ erfasst, denn nur durch das Vorhandensein oder die Möglichkeit eines solchen soll sich das „Theorem“ vor dem „Axiom“ auszeichnen. Verlangt man nun von dem „Beweise“ — denselben wol in dem ge- bräuchlichsten Sinne (sonach etwas weiter) fassend — nur die Herbei- führung der subjektiven Überzeugung, dass die zu beweisende Behauptung mit den Definitionen (und den eventuell ausserdem noch zuvor statuirten Axiomen) in objektiver Denknotwendigkeit gegeben sei, so muss man in unsrer gegenwärtigen Disziplin alles als „bewiesen“ gelten lassen, sobald es nur auf Grund gegebener Definitionen einleuchtet — und zwar einerlei, auf welchem Wege dieses Gefühl der Evidenz zustande kommt — auch dann insbesondere, wenn es sich unmittelbar aufdrängt. Wirkliche Axiome, wie in Geometrie und Physik, sind hier ja gar nicht vorhanden, und Alles ist mit den Definitionen nebst gewissen (das Zugeständniss der Wirklichkeit des Definirten fordernden) Postulaten schon denknotwendig gegeben — auch Dasjenige, was wir hier (zur Unterscheidung von jenen eigentlichen Axiomen) als „Prinzip“ hinstellen. Die Wissenschaft fasst den Begriff des „Beweises“ schon enger als das gemeine Leben, und zwar bei ihrem Fortschreiten ganz merklich immer enger und enger; vor allem sind die Mathematiker auch wählerisch in den Mitteln der Erkenntniss geworden; noch mehr müss(t)en die Philosophen es sein. So lässt denn die Geometrie z. B. bei ihren Beweisführungen nur mehr die logische Evidenz gelten; und schliesst die geometrische, welche auf der uns zur zweiten Natur gewordenen Raumanschauung beruht, in ihren höheren Teilen wenigstens, gewissenhaft aus. Die Arithmetik ist nunmehr völlig von der Anschauung oder Voraus- setzung vergleichbarer und messbarer Grössen frei geworden und auf rein logische Grundlagen gestellt; sie hat sich besonders dank den Arbeiten von H. Grassmann, G. Cantor, Weierstrass und Dedekind zu einem Zweige der reinen Logik entwickelt. Am engsten, sind wir genötigt, den Begriff des „Beweises“ in der Logik selbst zu fassen: die Arten, auf welche das Gefühl der Evidenz zu- stande kommen kann, sollen hier zum Bewusstsein gebracht, schematisirt, klassifizirt und rubrizirt werden. „Prinzipien“ nannten wir solche Sätze oder auch Schlussweisen, welche nicht auf früher registrirte nach eben- solchen zurückgeführt wurden und nebenbei gesagt sich auf noch einfachere Sätze überhaupt nicht reduziren zu lassen scheinen. „Theoreme“ nannten wir die Sätze, bei welchen solche Zurückführung — der sog. „Beweis“ — gelang, und zwar lediglich unter bewusster Anwendung der registrirten

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/78>, abgerufen am 27.04.2024.