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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891.

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§. 28. Schätzung von Aussagen nach den Zeiten ihrer Gültigkeit.
auch jetzt schon wahr, und brauchen wir hier nicht das Verbum
in das Futurum, dort es nicht in das Präteritum zu setzen. Der
Sprachgebrauch gestattet in solchen Fällen die Präsensform; doch ist
zu bemerken, dass bei völliger Unbestimmtheit sowol, als auch bei
absolut bestimmter Angabe eines Zeitraums oder Zeitpunktes, in welchen
ein Ereigniss fällt, in dem ein Zustand währt, jede Temporalflexion des
Verbums überflüssig ist, ja nachteilig wirken muss, präjudizirt, indem
das Präsens z. B. doch Vergangenheit und Zukunft auszuschliessen
scheint oder wenigstens sie unberücksichtigt lässt. (Vergl. Bd. 1, S. 153).

Nun kann aber in unsern Kultursprachen eine Aussage überhaupt
nicht gegeben werden, ohne dass in ihr das Verbum in einem ganz
bestimmten Tempus -- sei es Präteritum, Präsens oder Futurum --
steht, und somit gibt sich hier wieder einmal eine Unvollkommenheit
der Wortsprache kund. Eine Armut, auch, derselben zeigt sich darin,
dass sie zum Ausdruck von wesentlich verschiedenen Beziehungen doch
der nämlichen Formen sich bedienen muss:

Es ist ein ganz anderes Präsens, in welchem die Kopula unsrer
Aussage steht, wenn wir sagen: "zwei mal zwei ist vier", als wenn
wir sagen: "es ist vier Uhr (Nachmittags, hiesiger Zeit am hiesigen
Platze)". Jenes ist das "aoristische" Präsens: 2 x 2 ist nicht nur
soeben = 4, sondern war es auch stets und wird es immer sein; da-
gegen, wenn es soeben vier Uhr ist, so war es das vor einer halben
Stunde noch nicht, und wird es demnächst nicht mehr sein.

Es scheinen mir neben den zugehörigen unterscheidenden Formen sogar
auch die Namen zu fehlen für die verschiedenen Bedeutungen, die in Hin-
sicht der Auslegung des Verbums nach seinem Tempus logisch unter-
schieden werden müssen; ich wüsste wenigstens die zweite Art des Präsens
im Gegensatz zur ersten, die ich -- schon etwas gewagt -- die "aoristische"
nannte*), nicht mit einem gebräuchlichen Namen zu benennen. Jedenfalls
hat in beregter Hinsicht die altgriechische Sprache etwas schärfer unter-
schieden, als unsere modernen Sprachen, indem sie für gewisse Tempora
der Vergangenheit und Zukunft neben den gewöhnlichen auch aoristische
Formen schuf.

Im wissenschaftlichen Interesse wäre wol zu wünschen, dass es
neben dem gewöhnlichen Präteritum (mit seinen Abstufungen als Imper-
fektum, Perfektum und Plusquamperfektum), dem Präsens und dem
Futurum (nebst Abstufungen) auch ein Tempus generale (oder aoristicum)
gäbe -- behufs Vermeidung der Umständlichheit, dass man eigentlich:
"war stets, ist, und wird stets sein" (etc.) sagen müsste.

*) D. h. die "unbegrenzte"; Grammatiker sprechen auch von einer "durativen"
Bedeutung des Präsens und -- bei Sentenzen -- von einer "gnomischen".

§. 28. Schätzung von Aussagen nach den Zeiten ihrer Gültigkeit.
auch jetzt schon wahr, und brauchen wir hier nicht das Verbum
in das Futurum, dort es nicht in das Präteritum zu setzen. Der
Sprachgebrauch gestattet in solchen Fällen die Präsensform; doch ist
zu bemerken, dass bei völliger Unbestimmtheit sowol, als auch bei
absolut bestimmter Angabe eines Zeitraums oder Zeitpunktes, in welchen
ein Ereigniss fällt, in dem ein Zustand währt, jede Temporalflexion des
Verbums überflüssig ist, ja nachteilig wirken muss, präjudizirt, indem
das Präsens z. B. doch Vergangenheit und Zukunft auszuschliessen
scheint oder wenigstens sie unberücksichtigt lässt. (Vergl. Bd. 1, S. 153).

Nun kann aber in unsern Kultursprachen eine Aussage überhaupt
nicht gegeben werden, ohne dass in ihr das Verbum in einem ganz
bestimmten Tempus — sei es Präteritum, Präsens oder Futurum —
steht, und somit gibt sich hier wieder einmal eine Unvollkommenheit
der Wortsprache kund. Eine Armut, auch, derselben zeigt sich darin,
dass sie zum Ausdruck von wesentlich verschiedenen Beziehungen doch
der nämlichen Formen sich bedienen muss:

Es ist ein ganz anderes Präsens, in welchem die Kopula unsrer
Aussage steht, wenn wir sagen: „zwei mal zwei ist vier“, als wenn
wir sagen: „es ist vier Uhr (Nachmittags, hiesiger Zeit am hiesigen
Platze)“. Jenes ist das „aoristische“ Präsens: 2 × 2 ist nicht nur
soeben = 4, sondern war es auch stets und wird es immer sein; da-
gegen, wenn es soeben vier Uhr ist, so war es das vor einer halben
Stunde noch nicht, und wird es demnächst nicht mehr sein.

Es scheinen mir neben den zugehörigen unterscheidenden Formen sogar
auch die Namen zu fehlen für die verschiedenen Bedeutungen, die in Hin-
sicht der Auslegung des Verbums nach seinem Tempus logisch unter-
schieden werden müssen; ich wüsste wenigstens die zweite Art des Präsens
im Gegensatz zur ersten, die ich — schon etwas gewagt — die „aoristische“
nannte*), nicht mit einem gebräuchlichen Namen zu benennen. Jedenfalls
hat in beregter Hinsicht die altgriechische Sprache etwas schärfer unter-
schieden, als unsere modernen Sprachen, indem sie für gewisse Tempora
der Vergangenheit und Zukunft neben den gewöhnlichen auch aoristische
Formen schuf.

Im wissenschaftlichen Interesse wäre wol zu wünschen, dass es
neben dem gewöhnlichen Präteritum (mit seinen Abstufungen als Imper-
fektum, Perfektum und Plusquamperfektum), dem Präsens und dem
Futurum (nebst Abstufungen) auch ein Tempus generale (oder aoristicum)
gäbe — behufs Vermeidung der Umständlichheit, dass man eigentlich:
„war stets, ist, und wird stets sein“ (etc.) sagen müsste.

*) D. h. die „unbegrenzte“; Grammatiker sprechen auch von einer „durativen
Bedeutung des Präsens und — bei Sentenzen — von einer „gnomischen“.
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[11/0035] §. 28. Schätzung von Aussagen nach den Zeiten ihrer Gültigkeit. auch jetzt schon wahr, und brauchen wir hier nicht das Verbum in das Futurum, dort es nicht in das Präteritum zu setzen. Der Sprachgebrauch gestattet in solchen Fällen die Präsensform; doch ist zu bemerken, dass bei völliger Unbestimmtheit sowol, als auch bei absolut bestimmter Angabe eines Zeitraums oder Zeitpunktes, in welchen ein Ereigniss fällt, in dem ein Zustand währt, jede Temporalflexion des Verbums überflüssig ist, ja nachteilig wirken muss, präjudizirt, indem das Präsens z. B. doch Vergangenheit und Zukunft auszuschliessen scheint oder wenigstens sie unberücksichtigt lässt. (Vergl. Bd. 1, S. 153). Nun kann aber in unsern Kultursprachen eine Aussage überhaupt nicht gegeben werden, ohne dass in ihr das Verbum in einem ganz bestimmten Tempus — sei es Präteritum, Präsens oder Futurum — steht, und somit gibt sich hier wieder einmal eine Unvollkommenheit der Wortsprache kund. Eine Armut, auch, derselben zeigt sich darin, dass sie zum Ausdruck von wesentlich verschiedenen Beziehungen doch der nämlichen Formen sich bedienen muss: Es ist ein ganz anderes Präsens, in welchem die Kopula unsrer Aussage steht, wenn wir sagen: „zwei mal zwei ist vier“, als wenn wir sagen: „es ist vier Uhr (Nachmittags, hiesiger Zeit am hiesigen Platze)“. Jenes ist das „aoristische“ Präsens: 2 × 2 ist nicht nur soeben = 4, sondern war es auch stets und wird es immer sein; da- gegen, wenn es soeben vier Uhr ist, so war es das vor einer halben Stunde noch nicht, und wird es demnächst nicht mehr sein. Es scheinen mir neben den zugehörigen unterscheidenden Formen sogar auch die Namen zu fehlen für die verschiedenen Bedeutungen, die in Hin- sicht der Auslegung des Verbums nach seinem Tempus logisch unter- schieden werden müssen; ich wüsste wenigstens die zweite Art des Präsens im Gegensatz zur ersten, die ich — schon etwas gewagt — die „aoristische“ nannte *), nicht mit einem gebräuchlichen Namen zu benennen. Jedenfalls hat in beregter Hinsicht die altgriechische Sprache etwas schärfer unter- schieden, als unsere modernen Sprachen, indem sie für gewisse Tempora der Vergangenheit und Zukunft neben den gewöhnlichen auch aoristische Formen schuf. Im wissenschaftlichen Interesse wäre wol zu wünschen, dass es neben dem gewöhnlichen Präteritum (mit seinen Abstufungen als Imper- fektum, Perfektum und Plusquamperfektum), dem Präsens und dem Futurum (nebst Abstufungen) auch ein Tempus generale (oder aoristicum) gäbe — behufs Vermeidung der Umständlichheit, dass man eigentlich: „war stets, ist, und wird stets sein“ (etc.) sagen müsste. *) D. h. die „unbegrenzte“; Grammatiker sprechen auch von einer „durativen“ Bedeutung des Präsens und — bei Sentenzen — von einer „gnomischen“.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/35>, abgerufen am 25.04.2024.