Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 47. Definitionen des Individuums, Punktes.
den Begriff des Punktes nicht. Was ein Punkt ist, braucht man noch
gar nicht zu wissen und es würde die Fundamente unsres Kalkuls un-
erschüttert lassen, wenn meinethalben jemand den Punkt z. B. erklären
wollte "für einen Winkel, dem die Schenkel ausgerissen sind", oder
wenn gar der "Punkt" als ein Unding sich erwiese! Falls jemand nur
begriffen was zu verstehn ist unter einem System, Gebiete (z. B. einer
Fläche, einem Körper), und was die Einordnung eines solchen Gebietes
in ein anderes, des Teiles in ein Ganzes, bedeutet, so konnte er der
ganzen Entwickelung des Kalkuls folgen.

Sicher haben wir damit den erdenklich einfachsten Ausgangspunkt
erwählt, oder -- um das Wort ".. punkt" auch hier zu vermeiden:
unserm Kalkul die greifbarste und erdenklich einfachste Grundlage
gegeben; und sind wir damit all' den metaphysisch-geometrischen Spe-
kulationen und endlosen Erörterungen über die unsäglich vielfach ven-
tilirte Frage, das Wesen des Punktes betreffend, aus dem Wege ge-
gangen. "Punkt" und "Individuum" erschienen als noch gar nicht
rezipirt, noch nicht aufgenommen in unsre Theorie.

Nachdem solchergestalt aber eine Formelsprache gewonnen und
naturgemäss begründet ist, welche sich als fähig erwies, alle erdenk-
lichen Beziehungen zwischen Gebieten oder zwischen Klassen exakt
zum Ausdruck zu bringen, kann man sich die Frage vorlegen, welche
Eigenschaften nun ein Gebiet haben muss, damit es ein "Punkt" zu
nennen sei, und welche eine Klasse, wofern sie, als eine "singulare"
in ein einziges "Individuum" zusammenschrumpfen soll.

Diese Frage ist eine theoretisch wichtige und interessante. Ohne
ihre Erledigung könnte unsre Theorie nicht zur Vollendung kommen,
müsste sie hinfort doch eine Lücke aufweisen. Daher stellen wir uns
jetzt die Aufgabe, wenn wenigstens der Begriff des Gebietes, der
Klasse überhaupt als bekannt gilt und das Verständniss der Formel-
sprache des Kalkuls vorausgesetzt werden darf, zur Definition des
Punkts und Individuums
herabzusteigen.

Der Punkt lässt sich auch als "Individuum" der Punktmannig-
faltigkeit hinstellen*); ich wähle deshalb den Buchstaben i zur Be-
zeichnung des zu definirenden Gebildes, und sollten mehrere Individuen
in Betracht kommen, so unterscheide ich dieselben mittelst oberer
Indices, sie mit i1, i2, i3, ... benennend.

Um nicht alles doppelt aussprechen zu müssen -- einmal für
Punkte, und dann nochmals, mutatis mutandis, für Individuen -- halte

*) Wogegen meistens es weniger passend erschiene, das Individuum einen
"Punkt" in seiner Klasse zu nennen.

§ 47. Definitionen des Individuums, Punktes.
den Begriff des Punktes nicht. Was ein Punkt ist, braucht man noch
gar nicht zu wissen und es würde die Fundamente unsres Kalkuls un-
erschüttert lassen, wenn meinethalben jemand den Punkt z. B. erklären
wollte „für einen Winkel, dem die Schenkel ausgerissen sind“, oder
wenn gar der „Punkt“ als ein Unding sich erwiese! Falls jemand nur
begriffen was zu verstehn ist unter einem System, Gebiete (z. B. einer
Fläche, einem Körper), und was die Einordnung eines solchen Gebietes
in ein anderes, des Teiles in ein Ganzes, bedeutet, so konnte er der
ganzen Entwickelung des Kalkuls folgen.

Sicher haben wir damit den erdenklich einfachsten Ausgangspunkt
erwählt, oder — um das Wort „‥ punkt“ auch hier zu vermeiden:
unserm Kalkul die greifbarste und erdenklich einfachste Grundlage
gegeben; und sind wir damit all’ den metaphysisch-geometrischen Spe-
kulationen und endlosen Erörterungen über die unsäglich vielfach ven-
tilirte Frage, das Wesen des Punktes betreffend, aus dem Wege ge-
gangen. „Punkt“ und „Individuum“ erschienen als noch gar nicht
rezipirt, noch nicht aufgenommen in unsre Theorie.

Nachdem solchergestalt aber eine Formelsprache gewonnen und
naturgemäss begründet ist, welche sich als fähig erwies, alle erdenk-
lichen Beziehungen zwischen Gebieten oder zwischen Klassen exakt
zum Ausdruck zu bringen, kann man sich die Frage vorlegen, welche
Eigenschaften nun ein Gebiet haben muss, damit es ein „Punkt“ zu
nennen sei, und welche eine Klasse, wofern sie, als eine „singulare“
in ein einziges „Individuum“ zusammenschrumpfen soll.

Diese Frage ist eine theoretisch wichtige und interessante. Ohne
ihre Erledigung könnte unsre Theorie nicht zur Vollendung kommen,
müsste sie hinfort doch eine Lücke aufweisen. Daher stellen wir uns
jetzt die Aufgabe, wenn wenigstens der Begriff des Gebietes, der
Klasse überhaupt als bekannt gilt und das Verständniss der Formel-
sprache des Kalkuls vorausgesetzt werden darf, zur Definition des
Punkts und Individuums
herabzusteigen.

Der Punkt lässt sich auch als „Individuum“ der Punktmannig-
faltigkeit hinstellen*); ich wähle deshalb den Buchstaben i zur Be-
zeichnung des zu definirenden Gebildes, und sollten mehrere Individuen
in Betracht kommen, so unterscheide ich dieselben mittelst oberer
Indices, sie mit i1, i2, i3, … benennend.

Um nicht alles doppelt aussprechen zu müssen — einmal für
Punkte, und dann nochmals, mutatis mutandis, für Individuen — halte

*) Wogegen meistens es weniger passend erschiene, das Individuum einen
„Punkt“ in seiner Klasse zu nennen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0343" n="319"/><fw place="top" type="header">§ 47. Definitionen des Individuums, Punktes.</fw><lb/>
den Begriff des Punktes nicht. Was ein Punkt ist, braucht man noch<lb/>
gar nicht zu wissen und es würde die Fundamente unsres Kalkuls un-<lb/>
erschüttert lassen, wenn meinethalben jemand den Punkt z. B. erklären<lb/>
wollte &#x201E;für einen Winkel, dem die Schenkel ausgerissen sind&#x201C;, oder<lb/>
wenn gar der &#x201E;Punkt&#x201C; als ein Unding sich erwiese! Falls jemand nur<lb/>
begriffen was zu verstehn ist unter einem System, <hi rendition="#i">Gebiete</hi> (z. B. einer<lb/>
Fläche, einem Körper), und was die Einordnung eines solchen Gebietes<lb/>
in ein anderes, des <hi rendition="#i">Teiles</hi> in ein <hi rendition="#i">Ganzes</hi>, bedeutet, so konnte er der<lb/>
ganzen Entwickelung des Kalkuls folgen.</p><lb/>
            <p>Sicher haben wir damit den erdenklich einfachsten Ausgangspunkt<lb/>
erwählt, oder &#x2014; um das Wort &#x201E;&#x2025; punkt&#x201C; auch hier zu vermeiden:<lb/>
unserm Kalkul die greifbarste und erdenklich einfachste Grundlage<lb/>
gegeben; und sind wir damit all&#x2019; den metaphysisch-geometrischen Spe-<lb/>
kulationen und endlosen Erörterungen über die unsäglich vielfach ven-<lb/>
tilirte Frage, das Wesen des Punktes betreffend, aus dem Wege ge-<lb/>
gangen. &#x201E;Punkt&#x201C; und &#x201E;Individuum&#x201C; erschienen als noch gar nicht<lb/>
rezipirt, noch nicht aufgenommen in unsre Theorie.</p><lb/>
            <p>Nachdem solchergestalt aber eine Formelsprache gewonnen und<lb/>
naturgemäss begründet ist, welche sich als fähig erwies, alle erdenk-<lb/>
lichen Beziehungen zwischen Gebieten oder zwischen Klassen exakt<lb/>
zum Ausdruck zu bringen, kann man sich die Frage vorlegen, welche<lb/>
Eigenschaften nun ein Gebiet haben muss, damit es ein &#x201E;Punkt&#x201C; zu<lb/>
nennen sei, und welche eine Klasse, wofern sie, als eine &#x201E;singulare&#x201C;<lb/>
in ein einziges &#x201E;Individuum&#x201C; zusammenschrumpfen soll.</p><lb/>
            <p>Diese Frage ist eine theoretisch wichtige und interessante. Ohne<lb/>
ihre Erledigung könnte unsre Theorie nicht zur Vollendung kommen,<lb/>
müsste sie hinfort doch eine Lücke aufweisen. Daher stellen wir uns<lb/>
jetzt die Aufgabe, wenn wenigstens der Begriff des Gebietes, der<lb/>
Klasse überhaupt als bekannt gilt und das Verständniss der Formel-<lb/>
sprache des Kalkuls vorausgesetzt werden darf, zur <hi rendition="#i">Definition des<lb/>
Punkts und Individuums</hi> herabzusteigen.</p><lb/>
            <p>Der Punkt lässt sich auch als &#x201E;Individuum&#x201C; der Punktmannig-<lb/>
faltigkeit hinstellen<note place="foot" n="*)">Wogegen meistens es weniger passend erschiene, das Individuum einen<lb/>
&#x201E;Punkt&#x201C; in seiner Klasse zu nennen.</note>; ich wähle deshalb den Buchstaben <hi rendition="#i">i</hi> zur Be-<lb/>
zeichnung des zu definirenden Gebildes, und sollten mehrere Individuen<lb/>
in Betracht kommen, so unterscheide ich dieselben mittelst oberer<lb/>
Indices, sie mit <hi rendition="#i">i</hi><hi rendition="#sup">1</hi>, <hi rendition="#i">i</hi><hi rendition="#sup">2</hi>, <hi rendition="#i">i</hi><hi rendition="#sup">3</hi>, &#x2026; benennend.</p><lb/>
            <p>Um nicht alles doppelt aussprechen zu müssen &#x2014; einmal für<lb/>
Punkte, und dann nochmals, mutatis mutandis, für Individuen &#x2014; halte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0343] § 47. Definitionen des Individuums, Punktes. den Begriff des Punktes nicht. Was ein Punkt ist, braucht man noch gar nicht zu wissen und es würde die Fundamente unsres Kalkuls un- erschüttert lassen, wenn meinethalben jemand den Punkt z. B. erklären wollte „für einen Winkel, dem die Schenkel ausgerissen sind“, oder wenn gar der „Punkt“ als ein Unding sich erwiese! Falls jemand nur begriffen was zu verstehn ist unter einem System, Gebiete (z. B. einer Fläche, einem Körper), und was die Einordnung eines solchen Gebietes in ein anderes, des Teiles in ein Ganzes, bedeutet, so konnte er der ganzen Entwickelung des Kalkuls folgen. Sicher haben wir damit den erdenklich einfachsten Ausgangspunkt erwählt, oder — um das Wort „‥ punkt“ auch hier zu vermeiden: unserm Kalkul die greifbarste und erdenklich einfachste Grundlage gegeben; und sind wir damit all’ den metaphysisch-geometrischen Spe- kulationen und endlosen Erörterungen über die unsäglich vielfach ven- tilirte Frage, das Wesen des Punktes betreffend, aus dem Wege ge- gangen. „Punkt“ und „Individuum“ erschienen als noch gar nicht rezipirt, noch nicht aufgenommen in unsre Theorie. Nachdem solchergestalt aber eine Formelsprache gewonnen und naturgemäss begründet ist, welche sich als fähig erwies, alle erdenk- lichen Beziehungen zwischen Gebieten oder zwischen Klassen exakt zum Ausdruck zu bringen, kann man sich die Frage vorlegen, welche Eigenschaften nun ein Gebiet haben muss, damit es ein „Punkt“ zu nennen sei, und welche eine Klasse, wofern sie, als eine „singulare“ in ein einziges „Individuum“ zusammenschrumpfen soll. Diese Frage ist eine theoretisch wichtige und interessante. Ohne ihre Erledigung könnte unsre Theorie nicht zur Vollendung kommen, müsste sie hinfort doch eine Lücke aufweisen. Daher stellen wir uns jetzt die Aufgabe, wenn wenigstens der Begriff des Gebietes, der Klasse überhaupt als bekannt gilt und das Verständniss der Formel- sprache des Kalkuls vorausgesetzt werden darf, zur Definition des Punkts und Individuums herabzusteigen. Der Punkt lässt sich auch als „Individuum“ der Punktmannig- faltigkeit hinstellen *); ich wähle deshalb den Buchstaben i zur Be- zeichnung des zu definirenden Gebildes, und sollten mehrere Individuen in Betracht kommen, so unterscheide ich dieselben mittelst oberer Indices, sie mit i1, i2, i3, … benennend. Um nicht alles doppelt aussprechen zu müssen — einmal für Punkte, und dann nochmals, mutatis mutandis, für Individuen — halte *) Wogegen meistens es weniger passend erschiene, das Individuum einen „Punkt“ in seiner Klasse zu nennen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/343
Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/343>, abgerufen am 12.05.2024.