§ 20. Spezielle und allgemeine, synthetische u. analytische Propositionen.
Ich kann mich bei dieser Gelegenheit eines Seitenblicks auf die "Wahr- heiten der Mathematik" nicht entschlagen. Soferne diese Zahlen betreffen -- einerlei ob ganze oder irrationale oder andere -- so ist es erst in neuerer Zeit durch die scharfsinnigen Arbeiten namentlich von Hermann Grassmann und den Herrn Weierstrass, Georg Cantor und Dede- kind ausser allen Zweifel gestellt worden, dass diese Wahrheiten durchaus nur den Charakter von "analytischen" haben (vergl. hiezu unsern § 51), dass mithin Kant's Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? wol eine gegenstandslose ist.
Dagegen erscheinen die Axiome der Geometrie als "synthetische" Pro- positionen, die eine denknotwendige Geltung nicht zu beanspruchen ver- mögen und in dieser Hinsicht auf einer Linie stehen mit den Axiomen oder Prinzipien der Mechanik, mit den Theorieen und Hypothesen aller übrigen Teile der Physik oder Naturlehre. Dermalen bildet dies allerdings noch eine, selbst unter den Mathematikern nicht völlig zum Austrag ge- brachte Streitfrage. Für den Verfasser kann indess kein Zweifel bestehen, wohin der Sieg sich (vollends) neigen muss, und erscheint mir die Geo- metrie von hause aus als der erste Teil der Physik, als ursprünglich nur ein Zweig der induktiven und Naturwissenschaften, als solcher zunächst im Gegensatze stehend zur reinen Mathematik im engsten Sinne des Wortes, die als streng deduktive Disziplin nur Arithmetik*) und Logik zu um- fassen hätte und für Denjenigen, der mit Dedekind die Arithmetik als einen Zweig der Logik ansieht, mit letzterer geradezu zusammenfiele.
Sofern nicht ihre Axiome als in der Natur des physikalischen Raumes begründete einst noch in Zweifel gezogen und modifizirt werden müssen, hat aber die Geometrie, gefolgt von der Geomechanik etc., ihr induktives Anfangsstadium längst schon verlassen und ist, einen rein mathematischen Charakter annehmend, in das deduktive Stadium übergetreten (vgl. S. 42). Sie mag, gleichwie die theoretische Mechanik, aber nicht ohne diese, zur (reinen) Mathematik (im weiteren Sinne) nunmehr gerechnet werden. --
Die synthetischen Propositionen, oder Relationen, geben eine In- formation über die Klassen oder Gebiete, von denen sie handeln; sie dienen also in erster Linie dazu, wirklich etwas auszusagen und die Mitteilungsbedürfnisse der Sprache zu befriedigen.
Sofern sie von speziellem Charakter sind, wird diese Information, wie erwähnt, entweder richtig oder unrichtig sein. In diesen Fällen haben alle Klassen, von denen in der Proposition die Rede ist, ihre Definition, Erklärung bereits anderweitig, vorher, oder wenigstens ausserhalb der Proposition, gefunden; die Proposition sagt nur über lauter "bestimmte" oder "bekannte" Klassen etwas aus.
Anders, wenn die Proposition von allgemeinem Charakter ist, wo sie auch unbestimmte Klassen oder deren Symbole enthält.
*) Ich gebrauche das Wort "Arithmetik" hier immer in seiner vollsten Be- deutung, als die Zahlentheorie Algebra, Analysis, Funktionenlehre etc. mitum- fassend: als die gesamte Lehre von den Zahlen und ihren Funktionen.
§ 20. Spezielle und allgemeine, synthetische u. analytische Propositionen.
Ich kann mich bei dieser Gelegenheit eines Seitenblicks auf die „Wahr- heiten der Mathematik“ nicht entschlagen. Soferne diese Zahlen betreffen — einerlei ob ganze oder irrationale oder andere — so ist es erst in neuerer Zeit durch die scharfsinnigen Arbeiten namentlich von Hermann Grassmann und den Herrn Weierstrass, Georg Cantor und Dede- kind ausser allen Zweifel gestellt worden, dass diese Wahrheiten durchaus nur den Charakter von „analytischen“ haben (vergl. hiezu unsern § 51), dass mithin Kant's Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? wol eine gegenstandslose ist.
Dagegen erscheinen die Axiome der Geometrie als „synthetische“ Pro- positionen, die eine denknotwendige Geltung nicht zu beanspruchen ver- mögen und in dieser Hinsicht auf einer Linie stehen mit den Axiomen oder Prinzipien der Mechanik, mit den Theorieen und Hypothesen aller übrigen Teile der Physik oder Naturlehre. Dermalen bildet dies allerdings noch eine, selbst unter den Mathematikern nicht völlig zum Austrag ge- brachte Streitfrage. Für den Verfasser kann indess kein Zweifel bestehen, wohin der Sieg sich (vollends) neigen muss, und erscheint mir die Geo- metrie von hause aus als der erste Teil der Physik, als ursprünglich nur ein Zweig der induktiven und Naturwissenschaften, als solcher zunächst im Gegensatze stehend zur reinen Mathematik im engsten Sinne des Wortes, die als streng deduktive Disziplin nur Arithmetik*) und Logik zu um- fassen hätte und für Denjenigen, der mit Dedekind die Arithmetik als einen Zweig der Logik ansieht, mit letzterer geradezu zusammenfiele.
Sofern nicht ihre Axiome als in der Natur des physikalischen Raumes begründete einst noch in Zweifel gezogen und modifizirt werden müssen, hat aber die Geometrie, gefolgt von der Geomechanik etc., ihr induktives Anfangsstadium längst schon verlassen und ist, einen rein mathematischen Charakter annehmend, in das deduktive Stadium übergetreten (vgl. S. 42). Sie mag, gleichwie die theoretische Mechanik, aber nicht ohne diese, zur (reinen) Mathematik (im weiteren Sinne) nunmehr gerechnet werden. —
Die synthetischen Propositionen, oder Relationen, geben eine In- formation über die Klassen oder Gebiete, von denen sie handeln; sie dienen also in erster Linie dazu, wirklich etwas auszusagen und die Mitteilungsbedürfnisse der Sprache zu befriedigen.
Sofern sie von speziellem Charakter sind, wird diese Information, wie erwähnt, entweder richtig oder unrichtig sein. In diesen Fällen haben alle Klassen, von denen in der Proposition die Rede ist, ihre Definition, Erklärung bereits anderweitig, vorher, oder wenigstens ausserhalb der Proposition, gefunden; die Proposition sagt nur über lauter „bestimmte“ oder „bekannte“ Klassen etwas aus.
Anders, wenn die Proposition von allgemeinem Charakter ist, wo sie auch unbestimmte Klassen oder deren Symbole enthält.
*) Ich gebrauche das Wort „Arithmetik“ hier immer in seiner vollsten Be- deutung, als die Zahlentheorie Algebra, Analysis, Funktionenlehre etc. mitum- fassend: als die gesamte Lehre von den Zahlen und ihren Funktionen.
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§ 20. Spezielle und allgemeine, synthetische u. analytische Propositionen.
Ich kann mich bei dieser Gelegenheit eines Seitenblicks auf die „Wahr-
heiten der Mathematik“ nicht entschlagen. Soferne diese Zahlen betreffen
— einerlei ob ganze oder irrationale oder andere — so ist es erst in
neuerer Zeit durch die scharfsinnigen Arbeiten namentlich von Hermann
Grassmann und den Herrn Weierstrass, Georg Cantor und Dede-
kind ausser allen Zweifel gestellt worden, dass diese Wahrheiten durchaus
nur den Charakter von „analytischen“ haben (vergl. hiezu unsern § 51),
dass mithin Kant's Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich?
wol eine gegenstandslose ist.
Dagegen erscheinen die Axiome der Geometrie als „synthetische“ Pro-
positionen, die eine denknotwendige Geltung nicht zu beanspruchen ver-
mögen und in dieser Hinsicht auf einer Linie stehen mit den Axiomen
oder Prinzipien der Mechanik, mit den Theorieen und Hypothesen aller
übrigen Teile der Physik oder Naturlehre. Dermalen bildet dies allerdings
noch eine, selbst unter den Mathematikern nicht völlig zum Austrag ge-
brachte Streitfrage. Für den Verfasser kann indess kein Zweifel bestehen,
wohin der Sieg sich (vollends) neigen muss, und erscheint mir die Geo-
metrie von hause aus als der erste Teil der Physik, als ursprünglich nur
ein Zweig der induktiven und Naturwissenschaften, als solcher zunächst im
Gegensatze stehend zur reinen Mathematik im engsten Sinne des Wortes,
die als streng deduktive Disziplin nur Arithmetik *) und Logik zu um-
fassen hätte und für Denjenigen, der mit Dedekind die Arithmetik als
einen Zweig der Logik ansieht, mit letzterer geradezu zusammenfiele.
Sofern nicht ihre Axiome als in der Natur des physikalischen Raumes
begründete einst noch in Zweifel gezogen und modifizirt werden müssen,
hat aber die Geometrie, gefolgt von der Geomechanik etc., ihr induktives
Anfangsstadium längst schon verlassen und ist, einen rein mathematischen
Charakter annehmend, in das deduktive Stadium übergetreten (vgl. S. 42).
Sie mag, gleichwie die theoretische Mechanik, aber nicht ohne diese, zur
(reinen) Mathematik (im weiteren Sinne) nunmehr gerechnet werden. —
Die synthetischen Propositionen, oder Relationen, geben eine In-
formation über die Klassen oder Gebiete, von denen sie handeln; sie
dienen also in erster Linie dazu, wirklich etwas auszusagen und die
Mitteilungsbedürfnisse der Sprache zu befriedigen.
Sofern sie von speziellem Charakter sind, wird diese Information,
wie erwähnt, entweder richtig oder unrichtig sein. In diesen Fällen
haben alle Klassen, von denen in der Proposition die Rede ist, ihre
Definition, Erklärung bereits anderweitig, vorher, oder wenigstens
ausserhalb der Proposition, gefunden; die Proposition sagt nur über
lauter „bestimmte“ oder „bekannte“ Klassen etwas aus.
Anders, wenn die Proposition von allgemeinem Charakter ist, wo
sie auch unbestimmte Klassen oder deren Symbole enthält.
*) Ich gebrauche das Wort „Arithmetik“ hier immer in seiner vollsten Be-
deutung, als die Zahlentheorie Algebra, Analysis, Funktionenlehre etc. mitum-
fassend: als die gesamte Lehre von den Zahlen und ihren Funktionen.
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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/461>, abgerufen am 22.11.2024.
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