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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.

Man könnte auch die Frage aufwerfen, ob für den weiblichen Intellekt
dieselbe Denknotwendigkeit verbindlich ist wie für den männlichen.*) Auch
die auf diesem Gebiete zutag tretenden Gegensätze schieben wir aber auf
Rechnung vor allem der bei beiden Geschlechtern so verschiedenartigen Vor-
bildung und Schulung des Geistes, sodann auch auf Unterschiede des Tem-
peramentes und der Neigungen, welche beim weiblichen Geschlechte reiner
Verstandesthätigkeit im allgemeinen abgewendet sind.**)

Aus alledem geht hervor, dass unser wirkliches Denken in den
Urteilen, die es erzeugt, seinen Zweck häufig verfehlt (cf. Sigwart1,
p. 9); dass diese Urteile teils von dem einzelnen Denkenden selbst
wieder aufgehoben werden, indem die Überzeugung eintritt, dass sie
ungültig sind, d. h. dass notwendig anders geurteilt werden muss, teils
dass die Urteile von andern Denkenden nicht anerkannt werden, indem
diese ihre Notwendigkeit bestreiten, sie für blosse Meinung und Ver-
mutung erklären oder gar ihre Möglichkeit leugnen, sofern über den-
selben Gegenstand notwendig anders geurteilt werden müsse.

Solche Erfahrungen müssen uns dazu anregen, uns selbst auf die
Grundlagen unsres Denkens zu besinnen; in ihnen wurzelt das Be-
dürfniss einer Disziplin, welche beitragen kann, dem Irrtum vorzu-
beugen, den Streit vermeiden zu lehren, eventuell ihn zu schlichten,
indem sie dem Verstande eine solche Vorbereitung gibt, dass ihm
korrektes Denken zur Gewohnheit wird, und so darauf hinwirkt, dass
das gemeinverbindliche Denken auch wirklich zum allgemeinen werde.


m) Wir wollten uns mit den Gesetzen des folgerichtigen Denkens
beschäftigen, somit des von einer für alle Intelligenzen verbindlichen
Denknotwendigkeit beherrschten Denkens.

Nun kann man fragen: was ist Denken überhaupt, was Notwendig-
keit, was sind Gesetze? Würde jemand diese Fragen beantworten,
so könnte weiter gefragt werden, was die Worte bedeuten, mit Hülfe
deren der Sinn der vorigen zu erklären versucht worden und so weiter

*) Bedeutsam sagt z. B. ein feiner Menschenkenner, Bodenstedt (in Mirza-
Schaffy):
Frauensinn ist wohl zu beugen,
Ist der Mann ein Mann und schlau,
Aber nicht zu überzeugen:
Logik gibt's für keine Frau.
Frau'n kennen keine andern Schlüsse
Als Krämpfe, Thränen und Küsse.
**) Nicht ohne Ausnahmen. Wir werden in diesem Werke auch mit den
Leistungen einer Dame auf dem Gebiet der rechnenden Logik Bekanntschaft zu
machen haben.
Einleitung.

Man könnte auch die Frage aufwerfen, ob für den weiblichen Intellekt
dieselbe Denknotwendigkeit verbindlich ist wie für den männlichen.*) Auch
die auf diesem Gebiete zutag tretenden Gegensätze schieben wir aber auf
Rechnung vor allem der bei beiden Geschlechtern so verschiedenartigen Vor-
bildung und Schulung des Geistes, sodann auch auf Unterschiede des Tem-
peramentes und der Neigungen, welche beim weiblichen Geschlechte reiner
Verstandesthätigkeit im allgemeinen abgewendet sind.**)

Aus alledem geht hervor, dass unser wirkliches Denken in den
Urteilen, die es erzeugt, seinen Zweck häufig verfehlt (cf. Sigwart1,
p. 9); dass diese Urteile teils von dem einzelnen Denkenden selbst
wieder aufgehoben werden, indem die Überzeugung eintritt, dass sie
ungültig sind, d. h. dass notwendig anders geurteilt werden muss, teils
dass die Urteile von andern Denkenden nicht anerkannt werden, indem
diese ihre Notwendigkeit bestreiten, sie für blosse Meinung und Ver-
mutung erklären oder gar ihre Möglichkeit leugnen, sofern über den-
selben Gegenstand notwendig anders geurteilt werden müsse.

Solche Erfahrungen müssen uns dazu anregen, uns selbst auf die
Grundlagen unsres Denkens zu besinnen; in ihnen wurzelt das Be-
dürfniss einer Disziplin, welche beitragen kann, dem Irrtum vorzu-
beugen, den Streit vermeiden zu lehren, eventuell ihn zu schlichten,
indem sie dem Verstande eine solche Vorbereitung gibt, dass ihm
korrektes Denken zur Gewohnheit wird, und so darauf hinwirkt, dass
das gemeinverbindliche Denken auch wirklich zum allgemeinen werde.


μ) Wir wollten uns mit den Gesetzen des folgerichtigen Denkens
beschäftigen, somit des von einer für alle Intelligenzen verbindlichen
Denknotwendigkeit beherrschten Denkens.

Nun kann man fragen: was ist Denken überhaupt, was Notwendig-
keit, was sind Gesetze? Würde jemand diese Fragen beantworten,
so könnte weiter gefragt werden, was die Worte bedeuten, mit Hülfe
deren der Sinn der vorigen zu erklären versucht worden und so weiter

*) Bedeutsam sagt z. B. ein feiner Menschenkenner, Bodenstedt (in Mirza-
Schaffy):
Frauensinn ist wohl zu beugen,
Ist der Mann ein Mann und schlau,
Aber nicht zu überzeugen:
Logik gibt's für keine Frau.
Frau'n kennen keine andern Schlüsse
Als Krämpfe, Thränen und Küsse.
**) Nicht ohne Ausnahmen. Wir werden in diesem Werke auch mit den
Leistungen einer Dame auf dem Gebiet der rechnenden Logik Bekanntschaft zu
machen haben.
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[16/0036] Einleitung. Man könnte auch die Frage aufwerfen, ob für den weiblichen Intellekt dieselbe Denknotwendigkeit verbindlich ist wie für den männlichen. *) Auch die auf diesem Gebiete zutag tretenden Gegensätze schieben wir aber auf Rechnung vor allem der bei beiden Geschlechtern so verschiedenartigen Vor- bildung und Schulung des Geistes, sodann auch auf Unterschiede des Tem- peramentes und der Neigungen, welche beim weiblichen Geschlechte reiner Verstandesthätigkeit im allgemeinen abgewendet sind. **) Aus alledem geht hervor, dass unser wirkliches Denken in den Urteilen, die es erzeugt, seinen Zweck häufig verfehlt (cf. Sigwart1, p. 9); dass diese Urteile teils von dem einzelnen Denkenden selbst wieder aufgehoben werden, indem die Überzeugung eintritt, dass sie ungültig sind, d. h. dass notwendig anders geurteilt werden muss, teils dass die Urteile von andern Denkenden nicht anerkannt werden, indem diese ihre Notwendigkeit bestreiten, sie für blosse Meinung und Ver- mutung erklären oder gar ihre Möglichkeit leugnen, sofern über den- selben Gegenstand notwendig anders geurteilt werden müsse. Solche Erfahrungen müssen uns dazu anregen, uns selbst auf die Grundlagen unsres Denkens zu besinnen; in ihnen wurzelt das Be- dürfniss einer Disziplin, welche beitragen kann, dem Irrtum vorzu- beugen, den Streit vermeiden zu lehren, eventuell ihn zu schlichten, indem sie dem Verstande eine solche Vorbereitung gibt, dass ihm korrektes Denken zur Gewohnheit wird, und so darauf hinwirkt, dass das gemeinverbindliche Denken auch wirklich zum allgemeinen werde. μ) Wir wollten uns mit den Gesetzen des folgerichtigen Denkens beschäftigen, somit des von einer für alle Intelligenzen verbindlichen Denknotwendigkeit beherrschten Denkens. Nun kann man fragen: was ist Denken überhaupt, was Notwendig- keit, was sind Gesetze? Würde jemand diese Fragen beantworten, so könnte weiter gefragt werden, was die Worte bedeuten, mit Hülfe deren der Sinn der vorigen zu erklären versucht worden und so weiter *) Bedeutsam sagt z. B. ein feiner Menschenkenner, Bodenstedt (in Mirza- Schaffy): Frauensinn ist wohl zu beugen, Ist der Mann ein Mann und schlau, Aber nicht zu überzeugen: Logik gibt's für keine Frau. Frau'n kennen keine andern Schlüsse Als Krämpfe, Thränen und Küsse. **) Nicht ohne Ausnahmen. Wir werden in diesem Werke auch mit den Leistungen einer Dame auf dem Gebiet der rechnenden Logik Bekanntschaft zu machen haben.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/36>, abgerufen am 28.03.2024.