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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.

Insbesondre bringt der Gang wissenschaftlicher Forschung es fort-
während mit sich, dass Streit geschlichtet wird durch Verfolgung
falscher Sätze in ihre Konsequenzen, und jeder apagogische Beweis
ist ein Beispiel dieses Verfahrens (Sigwart1, p. 13).

l) Im Hinblick auf die enormen unter den Menschen herrschenden
Meinungsverschiedenheiten und auf die Thatsachen des Irrtums und
des Streites, scheint auf den ersten Blick ein Glaube an die Ge-
meinverbindlichkeit folgerichtigen Denkens nur schwer aufkommen
zu können.

In diesem Glauben lässt sich die Logik gleichwol nicht beirren.
Sie nimmt an, dass jene Fakta nicht sowol im Intellekte begründet
sind, als vielmehr ganz andern Ursachen zur Last fallen.

Zumeist entspringen jene Meinungsverschiedenheiten schon aus der
Nichtübereinstimmung der Prämissen des Schliessens, deren Erfassung bei
verschiedenen Denkern nach verschiedenen Richtungen mangelhaft erscheint
und die sich häufig nicht zu dem wünschenswerten Grade der Klarheit im
Bewusstsein emporgearbeitet haben, über die denn auch eine hinreichende
Verständigung nicht stattgefunden hat. Viele Menschen verschliessen auch
ihr Bewusstsein gewissen Erkenntnissen.

Doch, sofern selbst die Prämissen deduktiven Schliessens noch leidlich
übereinstimmen, sind die Schlussfolgerungen oft noch verschieden wegen
mangelnder oder unvollständiger, nicht gründlich genug vollzogener Prüfung
der im Bewusstsein aufgenommenen Objekte des Denkens durch den Ver-
stand vonseiten des einen oder andern Denkenden. Solches kann veranlasst
sein durch Denkfaul- (oder zarter ausgedrückt: -träg) heit, Schwerfälligkeit
auf der einen Seite, durch die Scheu vor der geistigen Anstrengung nicht
nur im gegebenen Falle, sondern auch durch den Mangel an Denkfertigkeit
und Gewandtheit, an geistiger Schulung und Disziplin im Denken, welche
jene Disposition im Gefolge zu haben pflegt -- und der grossen Menge gilt
in der That das "Kopfzerbrechen" für die allerunangenehmste Arbeit. Andrer-
seits wird häufig Ungeduld und Übereilung, ein lapsus attentionis etc., auf
das Zustandekommen fehlerhafter Schlüsse hinwirken. So in der That schon
bei ganz aufrichtigen Überzeugungen.

Dazu kommt aber noch die Dazwischenkunft, Intervention des Gemütes
mit seinen Leidenschaften, welche dahin wirken, dass der Mensch, mitunter
sich selbst unbewusst, oder auch sich beschwindelnd, einer in seinem (wirk-
lichen oder vermeintlichen) Interesse liegenden, einer ihm genehmen, er-
wünschten, schmeichelhaften Konklusion den Vorzug zu geben sucht vor der
logisch berechtigten. Namentlich kommt oft das Übergewicht in Betracht,
welches die Eitelkeit mit in die Wagschale legt, indem sie den Menschen
geneigt macht, bei eingewurzelten, überhaupt bei den einmal von ihm ge-
fassten Meinungen mit dem Dünkel der Unfehlbarkeit zu verharren, und
Anderes mehr. Die Logik von Port-Royal1 schon entrollt uns ein aus feiner
Beobachtung hervorgegangenes psychologisches Bild in beregter Hinsicht.

Einleitung.

Insbesondre bringt der Gang wissenschaftlicher Forschung es fort-
während mit sich, dass Streit geschlichtet wird durch Verfolgung
falscher Sätze in ihre Konsequenzen, und jeder apagogische Beweis
ist ein Beispiel dieses Verfahrens (Sigwart1, p. 13).

λ) Im Hinblick auf die enormen unter den Menschen herrschenden
Meinungsverschiedenheiten und auf die Thatsachen des Irrtums und
des Streites, scheint auf den ersten Blick ein Glaube an die Ge-
meinverbindlichkeit folgerichtigen Denkens nur schwer aufkommen
zu können.

In diesem Glauben lässt sich die Logik gleichwol nicht beirren.
Sie nimmt an, dass jene Fakta nicht sowol im Intellekte begründet
sind, als vielmehr ganz andern Ursachen zur Last fallen.

Zumeist entspringen jene Meinungsverschiedenheiten schon aus der
Nichtübereinstimmung der Prämissen des Schliessens, deren Erfassung bei
verschiedenen Denkern nach verschiedenen Richtungen mangelhaft erscheint
und die sich häufig nicht zu dem wünschenswerten Grade der Klarheit im
Bewusstsein emporgearbeitet haben, über die denn auch eine hinreichende
Verständigung nicht stattgefunden hat. Viele Menschen verschliessen auch
ihr Bewusstsein gewissen Erkenntnissen.

Doch, sofern selbst die Prämissen deduktiven Schliessens noch leidlich
übereinstimmen, sind die Schlussfolgerungen oft noch verschieden wegen
mangelnder oder unvollständiger, nicht gründlich genug vollzogener Prüfung
der im Bewusstsein aufgenommenen Objekte des Denkens durch den Ver-
stand vonseiten des einen oder andern Denkenden. Solches kann veranlasst
sein durch Denkfaul- (oder zarter ausgedrückt: -träg) heit, Schwerfälligkeit
auf der einen Seite, durch die Scheu vor der geistigen Anstrengung nicht
nur im gegebenen Falle, sondern auch durch den Mangel an Denkfertigkeit
und Gewandtheit, an geistiger Schulung und Disziplin im Denken, welche
jene Disposition im Gefolge zu haben pflegt — und der grossen Menge gilt
in der That das „Kopfzerbrechen“ für die allerunangenehmste Arbeit. Andrer-
seits wird häufig Ungeduld und Übereilung, ein lapsus attentionis etc., auf
das Zustandekommen fehlerhafter Schlüsse hinwirken. So in der That schon
bei ganz aufrichtigen Überzeugungen.

Dazu kommt aber noch die Dazwischenkunft, Intervention des Gemütes
mit seinen Leidenschaften, welche dahin wirken, dass der Mensch, mitunter
sich selbst unbewusst, oder auch sich beschwindelnd, einer in seinem (wirk-
lichen oder vermeintlichen) Interesse liegenden, einer ihm genehmen, er-
wünschten, schmeichelhaften Konklusion den Vorzug zu geben sucht vor der
logisch berechtigten. Namentlich kommt oft das Übergewicht in Betracht,
welches die Eitelkeit mit in die Wagschale legt, indem sie den Menschen
geneigt macht, bei eingewurzelten, überhaupt bei den einmal von ihm ge-
fassten Meinungen mit dem Dünkel der Unfehlbarkeit zu verharren, und
Anderes mehr. Die Logik von Port-Royal1 schon entrollt uns ein aus feiner
Beobachtung hervorgegangenes psychologisches Bild in beregter Hinsicht.

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[15/0035] Einleitung. Insbesondre bringt der Gang wissenschaftlicher Forschung es fort- während mit sich, dass Streit geschlichtet wird durch Verfolgung falscher Sätze in ihre Konsequenzen, und jeder apagogische Beweis ist ein Beispiel dieses Verfahrens (Sigwart1, p. 13). λ) Im Hinblick auf die enormen unter den Menschen herrschenden Meinungsverschiedenheiten und auf die Thatsachen des Irrtums und des Streites, scheint auf den ersten Blick ein Glaube an die Ge- meinverbindlichkeit folgerichtigen Denkens nur schwer aufkommen zu können. In diesem Glauben lässt sich die Logik gleichwol nicht beirren. Sie nimmt an, dass jene Fakta nicht sowol im Intellekte begründet sind, als vielmehr ganz andern Ursachen zur Last fallen. Zumeist entspringen jene Meinungsverschiedenheiten schon aus der Nichtübereinstimmung der Prämissen des Schliessens, deren Erfassung bei verschiedenen Denkern nach verschiedenen Richtungen mangelhaft erscheint und die sich häufig nicht zu dem wünschenswerten Grade der Klarheit im Bewusstsein emporgearbeitet haben, über die denn auch eine hinreichende Verständigung nicht stattgefunden hat. Viele Menschen verschliessen auch ihr Bewusstsein gewissen Erkenntnissen. Doch, sofern selbst die Prämissen deduktiven Schliessens noch leidlich übereinstimmen, sind die Schlussfolgerungen oft noch verschieden wegen mangelnder oder unvollständiger, nicht gründlich genug vollzogener Prüfung der im Bewusstsein aufgenommenen Objekte des Denkens durch den Ver- stand vonseiten des einen oder andern Denkenden. Solches kann veranlasst sein durch Denkfaul- (oder zarter ausgedrückt: -träg) heit, Schwerfälligkeit auf der einen Seite, durch die Scheu vor der geistigen Anstrengung nicht nur im gegebenen Falle, sondern auch durch den Mangel an Denkfertigkeit und Gewandtheit, an geistiger Schulung und Disziplin im Denken, welche jene Disposition im Gefolge zu haben pflegt — und der grossen Menge gilt in der That das „Kopfzerbrechen“ für die allerunangenehmste Arbeit. Andrer- seits wird häufig Ungeduld und Übereilung, ein lapsus attentionis etc., auf das Zustandekommen fehlerhafter Schlüsse hinwirken. So in der That schon bei ganz aufrichtigen Überzeugungen. Dazu kommt aber noch die Dazwischenkunft, Intervention des Gemütes mit seinen Leidenschaften, welche dahin wirken, dass der Mensch, mitunter sich selbst unbewusst, oder auch sich beschwindelnd, einer in seinem (wirk- lichen oder vermeintlichen) Interesse liegenden, einer ihm genehmen, er- wünschten, schmeichelhaften Konklusion den Vorzug zu geben sucht vor der logisch berechtigten. Namentlich kommt oft das Übergewicht in Betracht, welches die Eitelkeit mit in die Wagschale legt, indem sie den Menschen geneigt macht, bei eingewurzelten, überhaupt bei den einmal von ihm ge- fassten Meinungen mit dem Dünkel der Unfehlbarkeit zu verharren, und Anderes mehr. Die Logik von Port-Royal1 schon entrollt uns ein aus feiner Beobachtung hervorgegangenes psychologisches Bild in beregter Hinsicht.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/35>, abgerufen am 18.04.2024.