§ 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In- wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter- scheiden sind.
Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten -- ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant -- hier weit ausein- andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt- bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit sich selbst verwickeln müssten.
Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu- schicken.
Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent- halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen. Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.
Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin- gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über- wunden erkennen lassen werden.
Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt- heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen lässt, indem sie -- als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des Instituts der Klammern, entbehrende -- verschiedene Auffassungen dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver- mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen- kalkuls nicht selten nahe legt.
Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent- lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden (Vergl. § 31).
Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen
§ 15. Kritische Vorbemerkungen.
§ 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In- wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter- scheiden sind.
Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten — ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant — hier weit ausein- andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt- bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit sich selbst verwickeln müssten.
Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu- schicken.
Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent- halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen. Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.
Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin- gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über- wunden erkennen lassen werden.
Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt- heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen lässt, indem sie — als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des Instituts der Klammern, entbehrende — verschiedene Auffassungen dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver- mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen- kalkuls nicht selten nahe legt.
Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent- lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden (Vergl. § 31).
Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0339"n="319"/><fwplace="top"type="header">§ 15. Kritische Vorbemerkungen.</fw><lb/><divn="2"><head>§ 15. <hirendition="#b">Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In-<lb/>
wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und<lb/>
disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter-<lb/>
scheiden sind.</hi></head><lb/><p>Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem<lb/>
grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten<lb/>— ich nenne zunächst nur <hirendition="#g">Aristoteles</hi> und <hirendition="#g">Kant</hi>— hier weit ausein-<lb/>
andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt-<lb/>
bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese<lb/>
nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit<lb/>
sich selbst verwickeln müssten.</p><lb/><p>Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen<lb/>
sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer<lb/>
Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu-<lb/>
schicken.</p><lb/><p>Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent-<lb/>
halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen.<lb/>
Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen<lb/>
und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.</p><lb/><p>Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation<lb/>
und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind<lb/>
mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin-<lb/>
gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls<lb/>
völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über-<lb/>
wunden erkennen lassen werden.</p><lb/><p>Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt-<lb/>
heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und<lb/>
fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen<lb/>
lässt, indem sie — als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des<lb/>
Instituts der Klammern, entbehrende — verschiedene Auffassungen<lb/>
dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver-<lb/>
mengung von Deutungen des <hirendition="#i">Klassen</hi>kalkuls mit solchen des <hirendition="#i">Aussagen-</hi><lb/>
kalkuls nicht selten nahe legt.</p><lb/><p>Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent-<lb/>
lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in<lb/>
ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden<lb/>
(Vergl. § 31).</p><lb/><p>Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen<lb/>
Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks<lb/>
in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen<lb/>
Wechsel der Interpretation, durch eine einfache <hirendition="#i">Umdeutung</hi> aus ihnen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[319/0339]
§ 15. Kritische Vorbemerkungen.
§ 15. Kritische Vorbemerkungen zum nächsten Paragraphen: In-
wiefern negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen und
disjunktiv prädizirende Urteile von den disjunktiven zu unter-
scheiden sind.
Wir treten nunmehr an ein Untersuchungsfeld heran, auf welchem
grosse Vorsicht geboten ist, indem wir namhafteste Philosophen aller Zeiten
— ich nenne zunächst nur Aristoteles und Kant — hier weit ausein-
andergehen sehen und auch ganz neuerdings von autoritativen Seiten unhalt-
bare Theorieen aufgestellt zu finden meinen, die ihre Urheber, wofern diese
nur konsequent dabei zuwerke gingen, in die grössten Widersprüche mit
sich selbst verwickeln müssten.
Schon um die hiernach entgegenstehenden Hindernisse hinwegzuräumen
sehe ich mich veranlasst, der Fortsetzung des systematischen Teils unsrer
Disziplin einige Betrachtungen von kritisch-polemischer Natur voranzu-
schicken.
Bei diesen Vorbetrachtungen will ich mich des Rechnens noch ent-
halten, die Überlegungen vielmehr gemeinverständlich blos in Worten führen.
Der Kalkul wird schliesslich die Ergebnisse dieser Überlegungen bestätigen
und alles in noch hellerem Lichte erscheinen lassen.
Der Gründe für die Schwierigkeiten einer Theorie der Negation
und die durch sie bedingte Uneinigkeit unter den Fachgelehrten sind
mehrere, und werde hier auf die hauptsächlichsten im voraus hin-
gewiesen, obwol sie sich erst nach Bewältigung des Aussagenkalkuls
völlig überblicken und dann auch alle Schwierigkeiten sich als über-
wunden erkennen lassen werden.
Ein Hauptgrund dürfte zu erblicken sein in gewissen Unbestimmt-
heiten der Wortsprache, welche oft schon in ihren einfachsten und
fundamentalsten Satzbildungen die wünschenswerte Präzision vermissen
lässt, indem sie — als eine notwendiger Zeichen, wie namentlich des
Instituts der Klammern, entbehrende — verschiedene Auffassungen
dieser Satzbildungen zuzulassen scheint und insbesondere eine Ver-
mengung von Deutungen des Klassenkalkuls mit solchen des Aussagen-
kalkuls nicht selten nahe legt.
Die in Titel des § 16 genannten Sätze der Logik gehören wesent-
lich dem Aussagenkalkul an, wurzeln ganz in diesem und können in
ihrer ursprünglichen Bedeutung erst dort völlig erledigt werden
(Vergl. § 31).
Es kann sich im Klassenkalkul nur um Analoga von ebendiesen
Sätzen handeln, denen wir aber, weil sie gleichlautenden Ausdrucks
in der Formelsprache teilhaftig sind und später durch einen blossen
Wechsel der Interpretation, durch eine einfache Umdeutung aus ihnen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/339>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.