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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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§ 3. Identischer Kalkul mit Gebieten einer Mannigfaltigkeit.
überhaupt nie vollständig aufgezählt zu werden vermögen -- wie z. B.
die Klasse der Linien oder Kurven -- eventuell auch Klassen, deren
Individuen zum Teil noch ungewiss im Schoosse der Zukunft ruhen --
wie z. B. die Klasse der Menschen u. a. m.

In solchen Fällen müssen wir voraussetzen, dass wenigstens ein
Prinzip in uns wirksam sei, welches in Bezug auf jedes einzelne in
den Bereich unsres Denkens jemals fallende Objekt, in Bezug auf alles,
was fähig ist, von uns vorgestellt (oder was noch mehr sagt, von uns
gedacht) zu werden, unzweifelhaft entscheidet und uns mit Notwendig-
keit dahin drängt, dirigirt, entweder, es zu der Klasse zu rechnen, oder
aber, es von ihr auszuschliessen.

In Gestalt des "Begriffes" haben wir ja mit einem derartigen
Prinzipe, das solches auch zu leisten fähig, schon in C der Einleitung
Bekanntschaft gemacht. Indessen sei es ausdrücklich bemerkt, dass
Natur und Wirkungsweise gedachten Prinzips hiernächst uns gleich-
gültig lässt. Gerade darin, dass wir es dahingestellt sein lassen, auf
welche Weise die vorauszusetzende Abgrenzung unsrer Klassen zu-
stande kommen mag, erblicken wir einen Hauptvorzug der hier be-
folgten Methode. Auf diesem Umstand gerade beruht, wie wir meinen,
der elementare und fundamentale Charakter der hier entwickelten Theorie.

Das oben ausgesprochene Kriterium für die Wohldefinirtheit einer
Klasse scheint übrigens noch eines einschränkenden Zusatzes zu be-
dürfen in Gestalt des Vorbehaltes, dass die in Frage kommenden Ob-
jekte hinlänglich bekannt seien.

Sobald z. B. wir eine Zahl kennen, ist jeder Zweifel ausgeschlossen,
ob sie zur Klasse der ganzen Zahlen gehörig oder nicht; wir mögen
die Klasse der ganzen Zahlen als Exempel einer wohldefinirten Klasse
hinstellen ganz unbeschadet dessen, dass wir z. B. nicht wissen, ob das
Atomgewicht des Schwefels (auf Wasserstoff als Einheit bezogen)
zu derselben gehört oder nicht (vergl. die Stass'schen Atomzahlbe-
stimmungen), da uns eben diese Zahl zur Zeit nicht hinlänglich sicher
bekannt sein dürfte.

Auch mit diesem Vorbehalte bildet die genannte Voraussetzung
ein Ideal in den Zuständen unsres Denkens, welches nur selten von
der Wirklichkeit daselbst erreicht wird.

Es braucht in dieser Beziehung nur an die Schwierigkeiten erinnert
zu werden, welche die Abgrenzung zwischen Pflanzen- und Tierreich bei
den niederen Organismen der Naturwissenschaft bereitet, oder auch -- um
ein noch frappanteres Beispiel zu wählen -- an die Schwierigkeiten, welchen
die neuere gegen Fälschung der Nahrungs- und Genussmittel gerichtete
Gesetzgebung bei dem Versuche begegnet ist, die Begriffe von Brod, Wurst,

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§ 3. Identischer Kalkul mit Gebieten einer Mannigfaltigkeit.
überhaupt nie vollständig aufgezählt zu werden vermögen — wie z. B.
die Klasse der Linien oder Kurven — eventuell auch Klassen, deren
Individuen zum Teil noch ungewiss im Schoosse der Zukunft ruhen —
wie z. B. die Klasse der Menschen u. a. m.

In solchen Fällen müssen wir voraussetzen, dass wenigstens ein
Prinzip in uns wirksam sei, welches in Bezug auf jedes einzelne in
den Bereich unsres Denkens jemals fallende Objekt, in Bezug auf alles,
was fähig ist, von uns vorgestellt (oder was noch mehr sagt, von uns
gedacht) zu werden, unzweifelhaft entscheidet und uns mit Notwendig-
keit dahin drängt, dirigirt, entweder, es zu der Klasse zu rechnen, oder
aber, es von ihr auszuschliessen.

In Gestalt des „Begriffes“ haben wir ja mit einem derartigen
Prinzipe, das solches auch zu leisten fähig, schon in C der Einleitung
Bekanntschaft gemacht. Indessen sei es ausdrücklich bemerkt, dass
Natur und Wirkungsweise gedachten Prinzips hiernächst uns gleich-
gültig lässt. Gerade darin, dass wir es dahingestellt sein lassen, auf
welche Weise die vorauszusetzende Abgrenzung unsrer Klassen zu-
stande kommen mag, erblicken wir einen Hauptvorzug der hier be-
folgten Methode. Auf diesem Umstand gerade beruht, wie wir meinen,
der elementare und fundamentale Charakter der hier entwickelten Theorie.

Das oben ausgesprochene Kriterium für die Wohldefinirtheit einer
Klasse scheint übrigens noch eines einschränkenden Zusatzes zu be-
dürfen in Gestalt des Vorbehaltes, dass die in Frage kommenden Ob-
jekte hinlänglich bekannt seien.

Sobald z. B. wir eine Zahl kennen, ist jeder Zweifel ausgeschlossen,
ob sie zur Klasse der ganzen Zahlen gehörig oder nicht; wir mögen
die Klasse der ganzen Zahlen als Exempel einer wohldefinirten Klasse
hinstellen ganz unbeschadet dessen, dass wir z. B. nicht wissen, ob das
Atomgewicht des Schwefels (auf Wasserstoff als Einheit bezogen)
zu derselben gehört oder nicht (vergl. die Stass'schen Atomzahlbe-
stimmungen), da uns eben diese Zahl zur Zeit nicht hinlänglich sicher
bekannt sein dürfte.

Auch mit diesem Vorbehalte bildet die genannte Voraussetzung
ein Ideal in den Zuständen unsres Denkens, welches nur selten von
der Wirklichkeit daselbst erreicht wird.

Es braucht in dieser Beziehung nur an die Schwierigkeiten erinnert
zu werden, welche die Abgrenzung zwischen Pflanzen- und Tierreich bei
den niederen Organismen der Naturwissenschaft bereitet, oder auch — um
ein noch frappanteres Beispiel zu wählen — an die Schwierigkeiten, welchen
die neuere gegen Fälschung der Nahrungs- und Genussmittel gerichtete
Gesetzgebung bei dem Versuche begegnet ist, die Begriffe von Brod, Wurst,

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[163/0183] § 3. Identischer Kalkul mit Gebieten einer Mannigfaltigkeit. überhaupt nie vollständig aufgezählt zu werden vermögen — wie z. B. die Klasse der Linien oder Kurven — eventuell auch Klassen, deren Individuen zum Teil noch ungewiss im Schoosse der Zukunft ruhen — wie z. B. die Klasse der Menschen u. a. m. In solchen Fällen müssen wir voraussetzen, dass wenigstens ein Prinzip in uns wirksam sei, welches in Bezug auf jedes einzelne in den Bereich unsres Denkens jemals fallende Objekt, in Bezug auf alles, was fähig ist, von uns vorgestellt (oder was noch mehr sagt, von uns gedacht) zu werden, unzweifelhaft entscheidet und uns mit Notwendig- keit dahin drängt, dirigirt, entweder, es zu der Klasse zu rechnen, oder aber, es von ihr auszuschliessen. In Gestalt des „Begriffes“ haben wir ja mit einem derartigen Prinzipe, das solches auch zu leisten fähig, schon in C der Einleitung Bekanntschaft gemacht. Indessen sei es ausdrücklich bemerkt, dass Natur und Wirkungsweise gedachten Prinzips hiernächst uns gleich- gültig lässt. Gerade darin, dass wir es dahingestellt sein lassen, auf welche Weise die vorauszusetzende Abgrenzung unsrer Klassen zu- stande kommen mag, erblicken wir einen Hauptvorzug der hier be- folgten Methode. Auf diesem Umstand gerade beruht, wie wir meinen, der elementare und fundamentale Charakter der hier entwickelten Theorie. Das oben ausgesprochene Kriterium für die Wohldefinirtheit einer Klasse scheint übrigens noch eines einschränkenden Zusatzes zu be- dürfen in Gestalt des Vorbehaltes, dass die in Frage kommenden Ob- jekte hinlänglich bekannt seien. Sobald z. B. wir eine Zahl kennen, ist jeder Zweifel ausgeschlossen, ob sie zur Klasse der ganzen Zahlen gehörig oder nicht; wir mögen die Klasse der ganzen Zahlen als Exempel einer wohldefinirten Klasse hinstellen ganz unbeschadet dessen, dass wir z. B. nicht wissen, ob das Atomgewicht des Schwefels (auf Wasserstoff als Einheit bezogen) zu derselben gehört oder nicht (vergl. die Stass'schen Atomzahlbe- stimmungen), da uns eben diese Zahl zur Zeit nicht hinlänglich sicher bekannt sein dürfte. Auch mit diesem Vorbehalte bildet die genannte Voraussetzung ein Ideal in den Zuständen unsres Denkens, welches nur selten von der Wirklichkeit daselbst erreicht wird. Es braucht in dieser Beziehung nur an die Schwierigkeiten erinnert zu werden, welche die Abgrenzung zwischen Pflanzen- und Tierreich bei den niederen Organismen der Naturwissenschaft bereitet, oder auch — um ein noch frappanteres Beispiel zu wählen — an die Schwierigkeiten, welchen die neuere gegen Fälschung der Nahrungs- und Genussmittel gerichtete Gesetzgebung bei dem Versuche begegnet ist, die Begriffe von Brod, Wurst, 11*

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/183>, abgerufen am 27.04.2024.