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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
für richtig erklären, und die Schlussfolgerung besitzt darum das, was
man die "extralogische Gültigkeit" derselben nennen könnte: sie ist
"materiell" (aber nicht "formell") richtig.

Von der angeführten Prämisse allein konnte, wie gezeigt, eine
Denknotwendigkeit die Konklusion hier nicht liefern. Da diese letztere
aber richtig ist, so kann es dennoch eine gute Denkgewohnheit ge-
wesen sein, die zu ihr hinführte (auch eine, die vom Gefühl der Denk-
notwendigkeit begleitet sein mag), aber dann von andern Prämissen
aus, nämlich von einer Gruppe solcher, die aus der angegebenen durch
geeignete Ergänzung, Vermehrung hervorgehen.

Thatsächlich wirkte bei obigem Schlusse noch etwas, eine Denk-
gewohnheit, mit, die uns zur richtigen Konklusion leitete, indessen als
Prämisse unausgesprochen blieb. Man kann den Schluss gelten lassen
als einen unvollständigen, als ein sog. "Enthymem".*)

In Enthymemen wird im gemeinen Leben sehr häufig geschlossen,
wobei dem Verfahren die Tendenz der Abkürzung und die Höflichkeit zu-
grunde liegt, bei dem Hörer, dem man die erforderliche mentale Ergänzung
des Schlusses zuschiebt, auch selbstthätige denkende Mitwirkung voraus-
zusetzen.

Bringen wir uns dieses (anfänglich eventuell unbewusst gebliebene)
Agens zum Bewusstsein, so finden wir, dass es die Überzeugung war,
dass alle Menschen sterblich seien.

Dieser Glaube, selbst eine Denkgewohnheit, wird von Peirce
geradezu als das "leitende Prinzip" des vorliegenden Enthymems hin-
gestellt -- mit einer gewissen Berechtigung vielleicht, obwol nicht in
dem sonst üblichen Sinne.

Fügen wir denselben ausdrücklich, als Urteil gefasst, der bis-

*) Es gibt auch Grenzfälle von Enthymemen, wo dieser Name sich als nicht
mehr angemessen beanstanden lässt. Solche treten ein, wenn die ausdrücklich
angeführte Prämisse (oder eine derselben) sogar als völlig belanglos, überflüssig
zu erkennen ist, wenn man etwa die sämtlichen wirklich wirksamen Prämissen
mit Stillschweigen übergangen findet. So z. B. bei dem auch "materiell" wenigstens
richtigen "Schlusse" (?):
Vorgestern regnete es irgendwo
ergo: geht morgen die Sonne auf.

Die wirksamen Prämissen dieses Enthymems -- falls man es noch so nennen
will -- würden etwa sein: Jeden Tag geht (in unsern Breiten) die Sonne auf;
Morgen ist auch ein Tag. -- Man wird in solchem Falle sagen, dass das Wort
"ergo" am unrechten Platze sei, und gar kein Schluss vorliege, sondern nur eine
Reihe von ausser Zusammenhang stehenden Behauptungen.

Einleitung.
für richtig erklären, und die Schlussfolgerung besitzt darum das, was
man die „extralogische Gültigkeit“ derselben nennen könnte: sie ist
materiell“ (aber nicht „formell“) richtig.

Von der angeführten Prämisse allein konnte, wie gezeigt, eine
Denknotwendigkeit die Konklusion hier nicht liefern. Da diese letztere
aber richtig ist, so kann es dennoch eine gute Denkgewohnheit ge-
wesen sein, die zu ihr hinführte (auch eine, die vom Gefühl der Denk-
notwendigkeit begleitet sein mag), aber dann von andern Prämissen
aus, nämlich von einer Gruppe solcher, die aus der angegebenen durch
geeignete Ergänzung, Vermehrung hervorgehen.

Thatsächlich wirkte bei obigem Schlusse noch etwas, eine Denk-
gewohnheit, mit, die uns zur richtigen Konklusion leitete, indessen als
Prämisse unausgesprochen blieb. Man kann den Schluss gelten lassen
als einen unvollständigen, als ein sog. „Enthymem“.*)

In Enthymemen wird im gemeinen Leben sehr häufig geschlossen,
wobei dem Verfahren die Tendenz der Abkürzung und die Höflichkeit zu-
grunde liegt, bei dem Hörer, dem man die erforderliche mentale Ergänzung
des Schlusses zuschiebt, auch selbstthätige denkende Mitwirkung voraus-
zusetzen.

Bringen wir uns dieses (anfänglich eventuell unbewusst gebliebene)
Agens zum Bewusstsein, so finden wir, dass es die Überzeugung war,
dass alle Menschen sterblich seien.

Dieser Glaube, selbst eine Denkgewohnheit, wird von Peirce
geradezu als das „leitende Prinzip“ des vorliegenden Enthymems hin-
gestellt — mit einer gewissen Berechtigung vielleicht, obwol nicht in
dem sonst üblichen Sinne.

Fügen wir denselben ausdrücklich, als Urteil gefasst, der bis-

*) Es gibt auch Grenzfälle von Enthymemen, wo dieser Name sich als nicht
mehr angemessen beanstanden lässt. Solche treten ein, wenn die ausdrücklich
angeführte Prämisse (oder eine derselben) sogar als völlig belanglos, überflüssig
zu erkennen ist, wenn man etwa die sämtlichen wirklich wirksamen Prämissen
mit Stillschweigen übergangen findet. So z. B. bei dem auch „materiell“ wenigstens
richtigen „Schlusse“ (?):
Vorgestern regnete es irgendwo
ergo: geht morgen die Sonne auf.

Die wirksamen Prämissen dieses Enthymems — falls man es noch so nennen
will — würden etwa sein: Jeden Tag geht (in unsern Breiten) die Sonne auf;
Morgen ist auch ein Tag. — Man wird in solchem Falle sagen, dass das Wort
„ergo“ am unrechten Platze sei, und gar kein Schluss vorliege, sondern nur eine
Reihe von ausser Zusammenhang stehenden Behauptungen.
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[116/0136] Einleitung. für richtig erklären, und die Schlussfolgerung besitzt darum das, was man die „extralogische Gültigkeit“ derselben nennen könnte: sie ist „materiell“ (aber nicht „formell“) richtig. Von der angeführten Prämisse allein konnte, wie gezeigt, eine Denknotwendigkeit die Konklusion hier nicht liefern. Da diese letztere aber richtig ist, so kann es dennoch eine gute Denkgewohnheit ge- wesen sein, die zu ihr hinführte (auch eine, die vom Gefühl der Denk- notwendigkeit begleitet sein mag), aber dann von andern Prämissen aus, nämlich von einer Gruppe solcher, die aus der angegebenen durch geeignete Ergänzung, Vermehrung hervorgehen. Thatsächlich wirkte bei obigem Schlusse noch etwas, eine Denk- gewohnheit, mit, die uns zur richtigen Konklusion leitete, indessen als Prämisse unausgesprochen blieb. Man kann den Schluss gelten lassen als einen unvollständigen, als ein sog. „Enthymem“. *) In Enthymemen wird im gemeinen Leben sehr häufig geschlossen, wobei dem Verfahren die Tendenz der Abkürzung und die Höflichkeit zu- grunde liegt, bei dem Hörer, dem man die erforderliche mentale Ergänzung des Schlusses zuschiebt, auch selbstthätige denkende Mitwirkung voraus- zusetzen. Bringen wir uns dieses (anfänglich eventuell unbewusst gebliebene) Agens zum Bewusstsein, so finden wir, dass es die Überzeugung war, dass alle Menschen sterblich seien. Dieser Glaube, selbst eine Denkgewohnheit, wird von Peirce geradezu als das „leitende Prinzip“ des vorliegenden Enthymems hin- gestellt — mit einer gewissen Berechtigung vielleicht, obwol nicht in dem sonst üblichen Sinne. Fügen wir denselben ausdrücklich, als Urteil gefasst, der bis- *) Es gibt auch Grenzfälle von Enthymemen, wo dieser Name sich als nicht mehr angemessen beanstanden lässt. Solche treten ein, wenn die ausdrücklich angeführte Prämisse (oder eine derselben) sogar als völlig belanglos, überflüssig zu erkennen ist, wenn man etwa die sämtlichen wirklich wirksamen Prämissen mit Stillschweigen übergangen findet. So z. B. bei dem auch „materiell“ wenigstens richtigen „Schlusse“ (?): Vorgestern regnete es irgendwo ergo: geht morgen die Sonne auf. Die wirksamen Prämissen dieses Enthymems — falls man es noch so nennen will — würden etwa sein: Jeden Tag geht (in unsern Breiten) die Sonne auf; Morgen ist auch ein Tag. — Man wird in solchem Falle sagen, dass das Wort „ergo“ am unrechten Platze sei, und gar kein Schluss vorliege, sondern nur eine Reihe von ausser Zusammenhang stehenden Behauptungen.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/136>, abgerufen am 07.05.2024.