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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
oder das Alphabet der menschlichen Gedanken, bald hingegen calculus philo-
sophicus
oder calculus ratiocinator. [In jenem Briefe vom Jahre 1714 nennt
er es specieuse generale -- ein Name, welcher an die Verwandtschaft mit
der geometrischen Analysis erinnert, da diese, seit Vieta Buchstaben als
allgemeine Zeichen von Grössen in sie einführte, analysis speciosa hiess.]
Diese Namen zeigten schon das Ziel, das Leibniz vor Augen hatte: es
war eine adäquate und allgemeine Bezeichnung des Wesens der Begriffe
durch eine solche Zergliederung in ihre Elemente, dass dadurch eine Be-
handlung derselben durch Rechnung möglich werden sollte; sein Unter-
nehmen, sagt Leibniz, müsse zustande kommen characteribus et calculo als
eine combinatoria characteristica.

Von den Prinzipien her hofft er Befestigung der Erkenntniss, Ver-
hütung des Widerspruchs, Ausschluss des Streites (man werde, wo solcher
droht, einfach sagen: Lasst uns friedlich die Sache berechnen!). Leibniz
erwartet einen Einblick und eine Übersicht, durch welche mitten in der
sich ausdehnenden Masse der Erkenntniss dennoch die Wissenschaften sich
abkürzen, und insbesondere hofft er durch die Einsicht in die einfachen
Elemente und deren Verbindungsweisen auch fortschreitende Erkenntniss
des Besonderen, Entdeckungen und Erfindungen.

Die Verwirklichung des gedachten Ideals einer wissenschaftlichen
Klassifikation und systematischen Bezeichnung alles Benennbaren muss
aber nach dem oben von uns Angeführten zur Voraussetzung haben:
die vollendete Kenntniss der die Begriffselemente zu verknüpfen be-
stimmten Grundoperationen und die Bekanntschaft mit deren Gesetzen.
Diese Vorarbeit hat die Logik zu leisten, und solange sie -- wie der-
malen -- unvollendet ist, können Versuche erwähnter Art von Erfolg
nicht gekrönt sein.

Vorher schon Kategorieentafeln aufzustellen scheint mir kaum ver-
dienstlicher, als der Hinweis auf einen Haufen Steine als auf die Bausteine
zu einem wundervollen Baue, dessen Plan jedoch noch niemand gesehen
hat, und bei welchem auch das Bindemittel, der Kitt zum Zusammenhalten
der Steine, vergessen ist.

Jene die Begriffe verknüpfenden Operationen werden wir hier in
der That erst zu studiren haben.

Und ihre Gesetze werden wir in bestimmten Grenzen vollständig
erforschen, aber allerdings zunächst nur für die elementarsten Ver-

Reihe derartiger Versuche gedenkt Herr Guntram Schultheiss in einem Auf-
satze über "Künstliche und natürliche Weltsprachen" in Westermann's Monats-
heften vom Sept. 1886, p. 796 .. 807.
Des Raimundus Lullius "Summulae logicales" war hierbei nicht Er-
wähnung zu thun. -- Dass Herrn Frege's "Begriffsschrift"1 diesen ihren Namen
nicht verdient, sondern etwa als eine in der That logische (wenn auch nicht
zweckmässigste) Urteilsschrift zu bezeichnen wäre, glaube ich in meiner Rezension4
dargethan zu haben.

Einleitung.
oder das Alphabet der menschlichen Gedanken, bald hingegen calculus philo-
sophicus
oder calculus ratiocinator. [In jenem Briefe vom Jahre 1714 nennt
er es spécieuse générale — ein Name, welcher an die Verwandtschaft mit
der geometrischen Analysis erinnert, da diese, seit Vieta Buchstaben als
allgemeine Zeichen von Grössen in sie einführte, analysis speciosa hiess.]
Diese Namen zeigten schon das Ziel, das Leibniz vor Augen hatte: es
war eine adäquate und allgemeine Bezeichnung des Wesens der Begriffe
durch eine solche Zergliederung in ihre Elemente, dass dadurch eine Be-
handlung derselben durch Rechnung möglich werden sollte; sein Unter-
nehmen, sagt Leibniz, müsse zustande kommen characteribus et calculo als
eine combinatoria characteristica.

Von den Prinzipien her hofft er Befestigung der Erkenntniss, Ver-
hütung des Widerspruchs, Ausschluss des Streites (man werde, wo solcher
droht, einfach sagen: Lasst uns friedlich die Sache berechnen!). Leibniz
erwartet einen Einblick und eine Übersicht, durch welche mitten in der
sich ausdehnenden Masse der Erkenntniss dennoch die Wissenschaften sich
abkürzen, und insbesondere hofft er durch die Einsicht in die einfachen
Elemente und deren Verbindungsweisen auch fortschreitende Erkenntniss
des Besonderen, Entdeckungen und Erfindungen.

Die Verwirklichung des gedachten Ideals einer wissenschaftlichen
Klassifikation und systematischen Bezeichnung alles Benennbaren muss
aber nach dem oben von uns Angeführten zur Voraussetzung haben:
die vollendete Kenntniss der die Begriffselemente zu verknüpfen be-
stimmten Grundoperationen und die Bekanntschaft mit deren Gesetzen.
Diese Vorarbeit hat die Logik zu leisten, und solange sie — wie der-
malen — unvollendet ist, können Versuche erwähnter Art von Erfolg
nicht gekrönt sein.

Vorher schon Kategorieentafeln aufzustellen scheint mir kaum ver-
dienstlicher, als der Hinweis auf einen Haufen Steine als auf die Bausteine
zu einem wundervollen Baue, dessen Plan jedoch noch niemand gesehen
hat, und bei welchem auch das Bindemittel, der Kitt zum Zusammenhalten
der Steine, vergessen ist.

Jene die Begriffe verknüpfenden Operationen werden wir hier in
der That erst zu studiren haben.

Und ihre Gesetze werden wir in bestimmten Grenzen vollständig
erforschen, aber allerdings zunächst nur für die elementarsten Ver-

Reihe derartiger Versuche gedenkt Herr Guntram Schultheiss in einem Auf-
satze über „Künstliche und natürliche Weltsprachen“ in Westermann's Monats-
heften vom Sept. 1886, p. 796 ‥ 807.
Des Raimundus Lullius „Summulae logicales“ war hierbei nicht Er-
wähnung zu thun. — Dass Herrn Frege's „Begriffsschrift“1 diesen ihren Namen
nicht verdient, sondern etwa als eine in der That logische (wenn auch nicht
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dargethan zu haben.
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[95/0115] Einleitung. oder das Alphabet der menschlichen Gedanken, bald hingegen calculus philo- sophicus oder calculus ratiocinator. [In jenem Briefe vom Jahre 1714 nennt er es spécieuse générale — ein Name, welcher an die Verwandtschaft mit der geometrischen Analysis erinnert, da diese, seit Vieta Buchstaben als allgemeine Zeichen von Grössen in sie einführte, analysis speciosa hiess.] Diese Namen zeigten schon das Ziel, das Leibniz vor Augen hatte: es war eine adäquate und allgemeine Bezeichnung des Wesens der Begriffe durch eine solche Zergliederung in ihre Elemente, dass dadurch eine Be- handlung derselben durch Rechnung möglich werden sollte; sein Unter- nehmen, sagt Leibniz, müsse zustande kommen characteribus et calculo als eine combinatoria characteristica. Von den Prinzipien her hofft er Befestigung der Erkenntniss, Ver- hütung des Widerspruchs, Ausschluss des Streites (man werde, wo solcher droht, einfach sagen: Lasst uns friedlich die Sache berechnen!). Leibniz erwartet einen Einblick und eine Übersicht, durch welche mitten in der sich ausdehnenden Masse der Erkenntniss dennoch die Wissenschaften sich abkürzen, und insbesondere hofft er durch die Einsicht in die einfachen Elemente und deren Verbindungsweisen auch fortschreitende Erkenntniss des Besonderen, Entdeckungen und Erfindungen. Die Verwirklichung des gedachten Ideals einer wissenschaftlichen Klassifikation und systematischen Bezeichnung alles Benennbaren muss aber nach dem oben von uns Angeführten zur Voraussetzung haben: die vollendete Kenntniss der die Begriffselemente zu verknüpfen be- stimmten Grundoperationen und die Bekanntschaft mit deren Gesetzen. Diese Vorarbeit hat die Logik zu leisten, und solange sie — wie der- malen — unvollendet ist, können Versuche erwähnter Art von Erfolg nicht gekrönt sein. Vorher schon Kategorieentafeln aufzustellen scheint mir kaum ver- dienstlicher, als der Hinweis auf einen Haufen Steine als auf die Bausteine zu einem wundervollen Baue, dessen Plan jedoch noch niemand gesehen hat, und bei welchem auch das Bindemittel, der Kitt zum Zusammenhalten der Steine, vergessen ist. Jene die Begriffe verknüpfenden Operationen werden wir hier in der That erst zu studiren haben. Und ihre Gesetze werden wir in bestimmten Grenzen vollständig erforschen, aber allerdings zunächst nur für die elementarsten Ver- *) *) Reihe derartiger Versuche gedenkt Herr Guntram Schultheiss in einem Auf- satze über „Künstliche und natürliche Weltsprachen“ in Westermann's Monats- heften vom Sept. 1886, p. 796 ‥ 807. Des Raimundus Lullius „Summulae logicales“ war hierbei nicht Er- wähnung zu thun. — Dass Herrn Frege's „Begriffsschrift“1 diesen ihren Namen nicht verdient, sondern etwa als eine in der That logische (wenn auch nicht zweckmässigste) Urteilsschrift zu bezeichnen wäre, glaube ich in meiner Rezension4 dargethan zu haben.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/115>, abgerufen am 06.05.2024.