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Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Verwandten meines Oheims kamen, auf die Nachricht von dem wahrscheinlichen Tode der Tante, in dem Städtchen an, wo diese krank geworden und eben gestorben war. Sie ließen die Leiche schnell begraben und legten Beschlag auf den Nachlaß der Verstorbenen. Mir wurden meine wenigen Kleider und ein karges Reisegeld verabfolgt. Was blieb mir übrig, als nun allein den Weg nach der Residenz anzutreten, wo ich einige Hoffnung habe, in dem Hause aufgenommen zu werden, für das meine gute Tante mich bestimmt hatte?

Ich fragte um den Namen der Familie, an welche sich Gretchen in der Residenz wenden wollte. Sie nannte mir eine Frau von Reichard, Banquiers-Wittwe, welche ich einige Mal gesehen, und von der ich viel Gutes gehört hatte. Das Haus hat den besten Ruf, sagte ich; vielleicht, Gretchen, finden Sie da einen Theil dessen wieder, was Sie verloren haben. Ich will Sie in die Stadt bringen, liebes Kind; seien Sie guten Muthes! -- Die lebhafteste Freude glänzte in Gretchens Augen; sie drückte fühlbar meine Hand und war im Begriff, sie noch einmal gegen ihre Lippen zu führen. Das verwirrte mich; mit einiger Hast zog ich meine Hand zurück, so daß Gretchen mich betroffen ansah. Ich glaube, ich ward roth; unwillkürlich schlug ich die Augen nieder. Zum Glücke fuhr der Wagen eben in das Posthaus, und Paul stand schon vor dem offenen Schlage. -- Wir bleiben doch hier? sagte er, indem er mir heraushalf. -- Ja, Paul; besorge ein abgesondertes Zimmer für Mamsell Berger.

Verwandten meines Oheims kamen, auf die Nachricht von dem wahrscheinlichen Tode der Tante, in dem Städtchen an, wo diese krank geworden und eben gestorben war. Sie ließen die Leiche schnell begraben und legten Beschlag auf den Nachlaß der Verstorbenen. Mir wurden meine wenigen Kleider und ein karges Reisegeld verabfolgt. Was blieb mir übrig, als nun allein den Weg nach der Residenz anzutreten, wo ich einige Hoffnung habe, in dem Hause aufgenommen zu werden, für das meine gute Tante mich bestimmt hatte?

Ich fragte um den Namen der Familie, an welche sich Gretchen in der Residenz wenden wollte. Sie nannte mir eine Frau von Reichard, Banquiers-Wittwe, welche ich einige Mal gesehen, und von der ich viel Gutes gehört hatte. Das Haus hat den besten Ruf, sagte ich; vielleicht, Gretchen, finden Sie da einen Theil dessen wieder, was Sie verloren haben. Ich will Sie in die Stadt bringen, liebes Kind; seien Sie guten Muthes! — Die lebhafteste Freude glänzte in Gretchens Augen; sie drückte fühlbar meine Hand und war im Begriff, sie noch einmal gegen ihre Lippen zu führen. Das verwirrte mich; mit einiger Hast zog ich meine Hand zurück, so daß Gretchen mich betroffen ansah. Ich glaube, ich ward roth; unwillkürlich schlug ich die Augen nieder. Zum Glücke fuhr der Wagen eben in das Posthaus, und Paul stand schon vor dem offenen Schlage. — Wir bleiben doch hier? sagte er, indem er mir heraushalf. — Ja, Paul; besorge ein abgesondertes Zimmer für Mamsell Berger.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:30:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreyvogel_liebesgeschichte_1910/15>, abgerufen am 02.05.2024.