Die Gemüths-Seite des menschlichen Geistes erreicht am frühesten den Höhepunkt ihrer Entwickelung. Dieser fällt offenbar bei den meisten Menschen, deren Kindesalter nicht unter geradezu verkehrten Einflüssen stand, in das Jünglings- und Jungfrauen-Alter. Das spätere Leben ist eher geeignet, dem Gemüthe von seiner Wärme etwas zu nehmen, als sie zu heben und zu vermehren. Es dürfte daher meistentheils die Aufgabe nur in der möglichsten Erhaltung und Auffrischung der bis dahin erlangten Gemüthsfülle bestehen. Viel mehr entwickelnd und fortbildend als auf das Gemüth wirkt das spätere Leben auf Charakter und Denkkraft. Für deren Entwickelung gibt es im Leben keinen Ruhepunkt. Be- sonders wichtig und für das ganze Leben entscheidend ist es aber in Betreff des Charakters, dass derselbe schon im Jünglings- und Jungfrauen-Alter denjenigen Grad von Reife habe, der zur Sicherung der Selbständigkeit und Festig- keit gegen die von allen Seiten anfluthenden Einflüsse und Wechselfälle des Lebens genügt, der eine Schutzmauer bildet gegen das krankhafte Vorherrschen der gemüthlichen Seite, gegen jene schwächliche Empfindsamkeit -- die Krank- heit unserer Tage, welche als die allgemeinste Ursache der zunehmenden Häufigkeit der Lebensmüdigkeit, der Geisteskrank- heiten und Selbstmorde zu erkennen ist.
Der junge Mensch soll nun sein eigener alleiniger Er- zieher sein oder doch bald werden. Bevor wir ihm aber die Zügel ganz überlassen, möge sein ganzes Wesen so gründlich wie möglich durchforscht werden, um alle etwa zurückgeblie-
Geistige Seite.
Die Gemüths-Seite des menschlichen Geistes erreicht am frühesten den Höhepunkt ihrer Entwickelung. Dieser fällt offenbar bei den meisten Menschen, deren Kindesalter nicht unter geradezu verkehrten Einflüssen stand, in das Jünglings- und Jungfrauen-Alter. Das spätere Leben ist eher geeignet, dem Gemüthe von seiner Wärme etwas zu nehmen, als sie zu heben und zu vermehren. Es dürfte daher meistentheils die Aufgabe nur in der möglichsten Erhaltung und Auffrischung der bis dahin erlangten Gemüthsfülle bestehen. Viel mehr entwickelnd und fortbildend als auf das Gemüth wirkt das spätere Leben auf Charakter und Denkkraft. Für deren Entwickelung gibt es im Leben keinen Ruhepunkt. Be- sonders wichtig und für das ganze Leben entscheidend ist es aber in Betreff des Charakters, dass derselbe schon im Jünglings- und Jungfrauen-Alter denjenigen Grad von Reife habe, der zur Sicherung der Selbständigkeit und Festig- keit gegen die von allen Seiten anfluthenden Einflüsse und Wechselfälle des Lebens genügt, der eine Schutzmauer bildet gegen das krankhafte Vorherrschen der gemüthlichen Seite, gegen jene schwächliche Empfindsamkeit — die Krank- heit unserer Tage, welche als die allgemeinste Ursache der zunehmenden Häufigkeit der Lebensmüdigkeit, der Geisteskrank- heiten und Selbstmorde zu erkennen ist.
Der junge Mensch soll nun sein eigener alleiniger Er- zieher sein oder doch bald werden. Bevor wir ihm aber die Zügel ganz überlassen, möge sein ganzes Wesen so gründlich wie möglich durchforscht werden, um alle etwa zurückgeblie-
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Geistige Seite.
Die Gemüths-Seite des menschlichen Geistes erreicht am
frühesten den Höhepunkt ihrer Entwickelung. Dieser fällt
offenbar bei den meisten Menschen, deren Kindesalter nicht
unter geradezu verkehrten Einflüssen stand, in das Jünglings-
und Jungfrauen-Alter. Das spätere Leben ist eher geeignet,
dem Gemüthe von seiner Wärme etwas zu nehmen, als sie zu
heben und zu vermehren. Es dürfte daher meistentheils die
Aufgabe nur in der möglichsten Erhaltung und Auffrischung
der bis dahin erlangten Gemüthsfülle bestehen. Viel mehr
entwickelnd und fortbildend als auf das Gemüth wirkt
das spätere Leben auf Charakter und Denkkraft. Für deren
Entwickelung gibt es im Leben keinen Ruhepunkt. Be-
sonders wichtig und für das ganze Leben entscheidend ist
es aber in Betreff des Charakters, dass derselbe schon im
Jünglings- und Jungfrauen-Alter denjenigen Grad von Reife
habe, der zur Sicherung der Selbständigkeit und Festig-
keit gegen die von allen Seiten anfluthenden Einflüsse
und Wechselfälle des Lebens genügt, der eine Schutzmauer
bildet gegen das krankhafte Vorherrschen der gemüthlichen
Seite, gegen jene schwächliche Empfindsamkeit — die Krank-
heit unserer Tage, welche als die allgemeinste Ursache der
zunehmenden Häufigkeit der Lebensmüdigkeit, der Geisteskrank-
heiten und Selbstmorde zu erkennen ist.
Der junge Mensch soll nun sein eigener alleiniger Er-
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. [281]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/285>, abgerufen am 23.11.2024.
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