8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
nächst maassgebenden Vorbilder. Soll also ächte Religiosität Herzenseigenthum Eurer Kinder werden, so müsst Ihr ihnen dazu verhelfen, gleichviel ob mit oder ohne fremde Unterstützung.
Es ist dies die wichtigste und zugleich eine der schwie- rigsten Aufgaben der ganzen Erziehung. Sie ist deshalb so schwierig, weil hier ganz besonders Alles darauf ankommt, sich auf den jeweiligen Standpunkt der kindlichen Entwicke- lung herabzuversetzen, wenn nicht durch falsche Einwirkung nach irgend einer Seite hin das so überaus zarte geistige Pflänzchen Schaden leiden soll. Der im Allgemeinen naturge- mässeste und sicherste Weg dürfte etwa folgender sein.
Nachdem in der vorhergehenden Altersperiode die Ahnung des Göttlichen der kindlichen Seele aufgegangen war, sowohl im Tempel der Natur als an den sich darbietenden Erschei- nungen des Menschenlebens, nachdem die religiösen Vorgefühle und die stille Sehnsucht nach einem näheren Bekanntwerden mit dem Wesen dieser Gefühle genährt worden waren (s. S. 154 u. ff.), sollen nunmehr auch die Religionsbegriffe dem Kinde allmälig näher geführt werden. Der systematische Religionsunterricht gebührt der Schule. Die weitere Entwickelung, Veredelung und Befestigung des religiösen Sinnes und Willens verbleibt aber fast allein der häuslichen Erziehung als Aufgabe.
Diese Aufgabe bringt zunächst mit sich, dass das Kind in die freiwilligen Religionsübungen eingeweiht werde und, sofern sie gemeinschaftliche sind, an denselben Antheil nehme. Wo sie freilich gänzlich fehlen, wird nicht leicht wahre Reli- giosität herangebildet werden.
Hier ist nun gerade die Hauptklippe, an welcher so oft die besten Absichten der Aeltern oder Erzieher durch falsches Gebahren scheitern. Die wahre Religiosität kann sich nur von innen heraus entwickeln. Die Religionsübungen können also nur dann den reinen Werth haben, wenn das Kind mit ganzer, geweihter Seele dabei ist. Hierzu sind die zwei Grundbedingungen: Fernhaltung von Zwang und von Uebermaass.
Die erste ist an sich unzweifelhaft. Denn, während frü- her das Verständniss für alle übersinnlichen Begriffe, mithin
8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
nächst maassgebenden Vorbilder. Soll also ächte Religiosität Herzenseigenthum Eurer Kinder werden, so müsst Ihr ihnen dazu verhelfen, gleichviel ob mit oder ohne fremde Unterstützung.
Es ist dies die wichtigste und zugleich eine der schwie- rigsten Aufgaben der ganzen Erziehung. Sie ist deshalb so schwierig, weil hier ganz besonders Alles darauf ankommt, sich auf den jeweiligen Standpunkt der kindlichen Entwicke- lung herabzuversetzen, wenn nicht durch falsche Einwirkung nach irgend einer Seite hin das so überaus zarte geistige Pflänzchen Schaden leiden soll. Der im Allgemeinen naturge- mässeste und sicherste Weg dürfte etwa folgender sein.
Nachdem in der vorhergehenden Altersperiode die Ahnung des Göttlichen der kindlichen Seele aufgegangen war, sowohl im Tempel der Natur als an den sich darbietenden Erschei- nungen des Menschenlebens, nachdem die religiösen Vorgefühle und die stille Sehnsucht nach einem näheren Bekanntwerden mit dem Wesen dieser Gefühle genährt worden waren (s. S. 154 u. ff.), sollen nunmehr auch die Religionsbegriffe dem Kinde allmälig näher geführt werden. Der systematische Religionsunterricht gebührt der Schule. Die weitere Entwickelung, Veredelung und Befestigung des religiösen Sinnes und Willens verbleibt aber fast allein der häuslichen Erziehung als Aufgabe.
Diese Aufgabe bringt zunächst mit sich, dass das Kind in die freiwilligen Religionsübungen eingeweiht werde und, sofern sie gemeinschaftliche sind, an denselben Antheil nehme. Wo sie freilich gänzlich fehlen, wird nicht leicht wahre Reli- giosität herangebildet werden.
Hier ist nun gerade die Hauptklippe, an welcher so oft die besten Absichten der Aeltern oder Erzieher durch falsches Gebahren scheitern. Die wahre Religiosität kann sich nur von innen heraus entwickeln. Die Religionsübungen können also nur dann den reinen Werth haben, wenn das Kind mit ganzer, geweihter Seele dabei ist. Hierzu sind die zwei Grundbedingungen: Fernhaltung von Zwang und von Uebermaass.
Die erste ist an sich unzweifelhaft. Denn, während frü- her das Verständniss für alle übersinnlichen Begriffe, mithin
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8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
nächst maassgebenden Vorbilder. Soll also ächte Religiosität
Herzenseigenthum Eurer Kinder werden, so müsst Ihr ihnen
dazu verhelfen, gleichviel ob mit oder ohne fremde Unterstützung.
Es ist dies die wichtigste und zugleich eine der schwie-
rigsten Aufgaben der ganzen Erziehung. Sie ist deshalb so
schwierig, weil hier ganz besonders Alles darauf ankommt,
sich auf den jeweiligen Standpunkt der kindlichen Entwicke-
lung herabzuversetzen, wenn nicht durch falsche Einwirkung
nach irgend einer Seite hin das so überaus zarte geistige
Pflänzchen Schaden leiden soll. Der im Allgemeinen naturge-
mässeste und sicherste Weg dürfte etwa folgender sein.
Nachdem in der vorhergehenden Altersperiode die Ahnung
des Göttlichen der kindlichen Seele aufgegangen war, sowohl
im Tempel der Natur als an den sich darbietenden Erschei-
nungen des Menschenlebens, nachdem die religiösen Vorgefühle
und die stille Sehnsucht nach einem näheren Bekanntwerden mit
dem Wesen dieser Gefühle genährt worden waren (s. S. 154 u. ff.),
sollen nunmehr auch die Religionsbegriffe dem Kinde allmälig
näher geführt werden. Der systematische Religionsunterricht
gebührt der Schule. Die weitere Entwickelung, Veredelung
und Befestigung des religiösen Sinnes und Willens verbleibt
aber fast allein der häuslichen Erziehung als Aufgabe.
Diese Aufgabe bringt zunächst mit sich, dass das Kind
in die freiwilligen Religionsübungen eingeweiht werde und,
sofern sie gemeinschaftliche sind, an denselben Antheil nehme.
Wo sie freilich gänzlich fehlen, wird nicht leicht wahre Reli-
giosität herangebildet werden.
Hier ist nun gerade die Hauptklippe, an welcher so oft
die besten Absichten der Aeltern oder Erzieher durch falsches
Gebahren scheitern. Die wahre Religiosität kann sich nur von
innen heraus entwickeln. Die Religionsübungen können also
nur dann den reinen Werth haben, wenn das Kind mit
ganzer, geweihter Seele dabei ist. Hierzu sind die zwei
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/251>, abgerufen am 16.02.2025.
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