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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
der leitenden Hand dafür Sorge zu tragen, dass in den Kin-
dern zwar der tiefste Abscheu gegen das Laster an sich er-
zeugt wird, gegen die damit behafteten Personen aber kein
anderes Gefühl als das des innigsten Mitleides aufkommt.

Indem wir so den geistigen Blick des Kindes nach allen
Hauptrichtungen hin leiten und regeln, Verstand, Gemüth und
Willen in Einklang bringen, bahnen wir den Weg für die in-
mer freiere Entfaltung der höchsten Blüthe der Denkkraft --
der Vernunft. Sie ist die Herrscherin über alle übrigen
Geistesthätigkeiten, welche durch sie in Uebereinstimmung er-
halten werden sollen. Sie führt auch in jenen schwierigen La-
gen, wo gleichzeitige, verschiedene Gefühlsrichtungen und
Pflichten einander widerstreiten, auf das rechte Verhältniss der
Ueber- und Unterordnung. Je mehr sie die Oberhand ge-
winnt, um so mehr reift das Kind der Selbständigkeit und
Selbstverantwortlichkeit entgegen, um so reiner und vollkom-
mener entwickelt sich aus ihr das Gewissen -- der innere
Wächter der Sittlichkeit. Die Vernunft ist aber auch zugleich
die Vermittlerin zwischen der sinnlichen und übersinnlichen
Welt. Sie kann und soll es wenigstens werden, dadurch, dass
sie die von ihrer Himmelsschwester, der Religion, dargebo-
tene Hand erfasst.

Hier tritt uns nun die Frage entgegen: welcher An-
theil an der religiösen Erziehung fällt neben den
Lehrern den Aeltern zu?

Wenn wir die, wenigstens in den öffentlichen Schulen, ge-
wöhnlichen Verhältnisse erwägen, unter denen doch der bei
weitem grösste Theil unserer Jugend herangebildet wird, so
drängt sich uns die Ueberzeugung auf, dass selbst den aller-
vorzüglichsten Lehrern nicht viel mehr Möglichkeit in der
Hand liegt, als das religiöse Wissen, die Religionslehre in den
Kindern zu befestigen. Das Wesen, der Kern der Religion
aber, die innerliche Entfaltung des religiösen Sinnes und Ge-
fühles, kann als die zarteste Blüthe am geistigen Lebensbaume
nur in der Stille der Häuslichkeit gedeihen. Aber auch selbst
abgesehen davon -- Ihr, Aeltern, seid und bleibet ja auf der
ganzen Entwickelungsbahn des Kindes in allen Fällen die

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
der leitenden Hand dafür Sorge zu tragen, dass in den Kin-
dern zwar der tiefste Abscheu gegen das Laster an sich er-
zeugt wird, gegen die damit behafteten Personen aber kein
anderes Gefühl als das des innigsten Mitleides aufkommt.

Indem wir so den geistigen Blick des Kindes nach allen
Hauptrichtungen hin leiten und regeln, Verstand, Gemüth und
Willen in Einklang bringen, bahnen wir den Weg für die in-
mer freiere Entfaltung der höchsten Blüthe der Denkkraft —
der Vernunft. Sie ist die Herrscherin über alle übrigen
Geistesthätigkeiten, welche durch sie in Uebereinstimmung er-
halten werden sollen. Sie führt auch in jenen schwierigen La-
gen, wo gleichzeitige, verschiedene Gefühlsrichtungen und
Pflichten einander widerstreiten, auf das rechte Verhältniss der
Ueber- und Unterordnung. Je mehr sie die Oberhand ge-
winnt, um so mehr reift das Kind der Selbständigkeit und
Selbstverantwortlichkeit entgegen, um so reiner und vollkom-
mener entwickelt sich aus ihr das Gewissen — der innere
Wächter der Sittlichkeit. Die Vernunft ist aber auch zugleich
die Vermittlerin zwischen der sinnlichen und übersinnlichen
Welt. Sie kann und soll es wenigstens werden, dadurch, dass
sie die von ihrer Himmelsschwester, der Religion, dargebo-
tene Hand erfasst.

Hier tritt uns nun die Frage entgegen: welcher An-
theil an der religiösen Erziehung fällt neben den
Lehrern den Aeltern zu?

Wenn wir die, wenigstens in den öffentlichen Schulen, ge-
wöhnlichen Verhältnisse erwägen, unter denen doch der bei
weitem grösste Theil unserer Jugend herangebildet wird, so
drängt sich uns die Ueberzeugung auf, dass selbst den aller-
vorzüglichsten Lehrern nicht viel mehr Möglichkeit in der
Hand liegt, als das religiöse Wissen, die Religionslehre in den
Kindern zu befestigen. Das Wesen, der Kern der Religion
aber, die innerliche Entfaltung des religiösen Sinnes und Ge-
fühles, kann als die zarteste Blüthe am geistigen Lebensbaume
nur in der Stille der Häuslichkeit gedeihen. Aber auch selbst
abgesehen davon — Ihr, Aeltern, seid und bleibet ja auf der
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[246/0250] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. der leitenden Hand dafür Sorge zu tragen, dass in den Kin- dern zwar der tiefste Abscheu gegen das Laster an sich er- zeugt wird, gegen die damit behafteten Personen aber kein anderes Gefühl als das des innigsten Mitleides aufkommt. Indem wir so den geistigen Blick des Kindes nach allen Hauptrichtungen hin leiten und regeln, Verstand, Gemüth und Willen in Einklang bringen, bahnen wir den Weg für die in- mer freiere Entfaltung der höchsten Blüthe der Denkkraft — der Vernunft. Sie ist die Herrscherin über alle übrigen Geistesthätigkeiten, welche durch sie in Uebereinstimmung er- halten werden sollen. Sie führt auch in jenen schwierigen La- gen, wo gleichzeitige, verschiedene Gefühlsrichtungen und Pflichten einander widerstreiten, auf das rechte Verhältniss der Ueber- und Unterordnung. Je mehr sie die Oberhand ge- winnt, um so mehr reift das Kind der Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit entgegen, um so reiner und vollkom- mener entwickelt sich aus ihr das Gewissen — der innere Wächter der Sittlichkeit. Die Vernunft ist aber auch zugleich die Vermittlerin zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt. Sie kann und soll es wenigstens werden, dadurch, dass sie die von ihrer Himmelsschwester, der Religion, dargebo- tene Hand erfasst. Hier tritt uns nun die Frage entgegen: welcher An- theil an der religiösen Erziehung fällt neben den Lehrern den Aeltern zu? Wenn wir die, wenigstens in den öffentlichen Schulen, ge- wöhnlichen Verhältnisse erwägen, unter denen doch der bei weitem grösste Theil unserer Jugend herangebildet wird, so drängt sich uns die Ueberzeugung auf, dass selbst den aller- vorzüglichsten Lehrern nicht viel mehr Möglichkeit in der Hand liegt, als das religiöse Wissen, die Religionslehre in den Kindern zu befestigen. Das Wesen, der Kern der Religion aber, die innerliche Entfaltung des religiösen Sinnes und Ge- fühles, kann als die zarteste Blüthe am geistigen Lebensbaume nur in der Stille der Häuslichkeit gedeihen. Aber auch selbst abgesehen davon — Ihr, Aeltern, seid und bleibet ja auf der ganzen Entwickelungsbahn des Kindes in allen Fällen die

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/250>, abgerufen am 09.05.2024.