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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
cherer Stimmung heim, als sie vielleicht von der Lustpartie
zurückgekehrt wären.

Hat das Kind einmal einen vollen Zug aus diesem edlen
Freudenbecher gethan, so kann man darauf rechnen, dass es
öfter ihn von selbst erfassen, dass es auch ohne äussere An-
regung, durch den eigenen freiwilligen Gedankengang zu der-
artigen Entschlüssen kommen wird. So ein anderer Fall. Die
drei ältesten Kinder einer schlichten Familie in dem Alter
von 12, 11 und 9 Jahren beschlossen unter einander -- es
war zu Anfang eines Jahres --, dieses Jahr hindurch die
Butter, welche sie gewöhnlich zu ihrem Morgenbrode erhiel-
ten, sich zu versagen, das dadurch ersparte Sümmchen schliess-
lich von ihrer Mutter sich zu erbitten, um am Ende des Jah-
res armen Kindern eine Weihnachtsfreude davon zu bereiten.
Es wurde wacker durchgeführt, ohne dass der Entschluss
trotz der langen Zeit wankend, und irgend eine Auffrischung
desselben von aussen nöthig geworden wäre. Die Aeltern be-
gnügten sich mit der stillen Freude, hüteten sich aber wohl,
um die Handlung nicht zu entweihen, ausser belobender An-
erkennung vor jeder Belohnung, wozu die Sache viel Verfüh-
rerisches hatte.

Die gereiftere Willenskraft soll sich nunmehr auch be-
währen im festeren Ertragen von geringeren oder grösseren
Prüfungen, wie sie gerade das Leben mit sich führt: von
Unbequemlichkeiten, Unannehmlichkeiten, Widerwärtigkeiten,
körperlichen Schmerzen. Alles Weinen und Klagen muss zwar
mit Ruhe, aber mit immer zunehmender Entschiedenheit von
der Umgebung des Kindes niedergekämpft werden. Die weiche,
zarte Theilnahme äussert sich immer besser nach überstande-
ner Prüfung als während derselben, wo nur kräftigende Ein-
flüsse stattfinden dürfen. Ist das Ehrgefühl geschärft, so wird
es auch in allen solchen Fällen den trefflichsten Beistand lei-
sten. Sollte noch Klagen und Weinen aus ganz ungenügenden
Ursachen zuweilen vorkommen, so muss es sofort und in
scharfer Weise abgeschnitten werden.

Keine Gelegenheit darf man vorübergehen lassen, ohne
in dem Kinde das Bestreben zu erhalten, jede Art ange-

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
cherer Stimmung heim, als sie vielleicht von der Lustpartie
zurückgekehrt wären.

Hat das Kind einmal einen vollen Zug aus diesem edlen
Freudenbecher gethan, so kann man darauf rechnen, dass es
öfter ihn von selbst erfassen, dass es auch ohne äussere An-
regung, durch den eigenen freiwilligen Gedankengang zu der-
artigen Entschlüssen kommen wird. So ein anderer Fall. Die
drei ältesten Kinder einer schlichten Familie in dem Alter
von 12, 11 und 9 Jahren beschlossen unter einander — es
war zu Anfang eines Jahres —, dieses Jahr hindurch die
Butter, welche sie gewöhnlich zu ihrem Morgenbrode erhiel-
ten, sich zu versagen, das dadurch ersparte Sümmchen schliess-
lich von ihrer Mutter sich zu erbitten, um am Ende des Jah-
res armen Kindern eine Weihnachtsfreude davon zu bereiten.
Es wurde wacker durchgeführt, ohne dass der Entschluss
trotz der langen Zeit wankend, und irgend eine Auffrischung
desselben von aussen nöthig geworden wäre. Die Aeltern be-
gnügten sich mit der stillen Freude, hüteten sich aber wohl,
um die Handlung nicht zu entweihen, ausser belobender An-
erkennung vor jeder Belohnung, wozu die Sache viel Verfüh-
rerisches hatte.

Die gereiftere Willenskraft soll sich nunmehr auch be-
währen im festeren Ertragen von geringeren oder grösseren
Prüfungen, wie sie gerade das Leben mit sich führt: von
Unbequemlichkeiten, Unannehmlichkeiten, Widerwärtigkeiten,
körperlichen Schmerzen. Alles Weinen und Klagen muss zwar
mit Ruhe, aber mit immer zunehmender Entschiedenheit von
der Umgebung des Kindes niedergekämpft werden. Die weiche,
zarte Theilnahme äussert sich immer besser nach überstande-
ner Prüfung als während derselben, wo nur kräftigende Ein-
flüsse stattfinden dürfen. Ist das Ehrgefühl geschärft, so wird
es auch in allen solchen Fällen den trefflichsten Beistand lei-
sten. Sollte noch Klagen und Weinen aus ganz ungenügenden
Ursachen zuweilen vorkommen, so muss es sofort und in
scharfer Weise abgeschnitten werden.

Keine Gelegenheit darf man vorübergehen lassen, ohne
in dem Kinde das Bestreben zu erhalten, jede Art ange-

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[238/0242] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. cherer Stimmung heim, als sie vielleicht von der Lustpartie zurückgekehrt wären. Hat das Kind einmal einen vollen Zug aus diesem edlen Freudenbecher gethan, so kann man darauf rechnen, dass es öfter ihn von selbst erfassen, dass es auch ohne äussere An- regung, durch den eigenen freiwilligen Gedankengang zu der- artigen Entschlüssen kommen wird. So ein anderer Fall. Die drei ältesten Kinder einer schlichten Familie in dem Alter von 12, 11 und 9 Jahren beschlossen unter einander — es war zu Anfang eines Jahres —, dieses Jahr hindurch die Butter, welche sie gewöhnlich zu ihrem Morgenbrode erhiel- ten, sich zu versagen, das dadurch ersparte Sümmchen schliess- lich von ihrer Mutter sich zu erbitten, um am Ende des Jah- res armen Kindern eine Weihnachtsfreude davon zu bereiten. Es wurde wacker durchgeführt, ohne dass der Entschluss trotz der langen Zeit wankend, und irgend eine Auffrischung desselben von aussen nöthig geworden wäre. Die Aeltern be- gnügten sich mit der stillen Freude, hüteten sich aber wohl, um die Handlung nicht zu entweihen, ausser belobender An- erkennung vor jeder Belohnung, wozu die Sache viel Verfüh- rerisches hatte. Die gereiftere Willenskraft soll sich nunmehr auch be- währen im festeren Ertragen von geringeren oder grösseren Prüfungen, wie sie gerade das Leben mit sich führt: von Unbequemlichkeiten, Unannehmlichkeiten, Widerwärtigkeiten, körperlichen Schmerzen. Alles Weinen und Klagen muss zwar mit Ruhe, aber mit immer zunehmender Entschiedenheit von der Umgebung des Kindes niedergekämpft werden. Die weiche, zarte Theilnahme äussert sich immer besser nach überstande- ner Prüfung als während derselben, wo nur kräftigende Ein- flüsse stattfinden dürfen. Ist das Ehrgefühl geschärft, so wird es auch in allen solchen Fällen den trefflichsten Beistand lei- sten. Sollte noch Klagen und Weinen aus ganz ungenügenden Ursachen zuweilen vorkommen, so muss es sofort und in scharfer Weise abgeschnitten werden. Keine Gelegenheit darf man vorübergehen lassen, ohne in dem Kinde das Bestreben zu erhalten, jede Art ange-

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/242>, abgerufen am 25.11.2024.