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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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tiger und greller Sinneseindrücke, plötzlicher Uebergänge der
Extreme zu schonen, sondern wir müssen auch jetzt schon
darauf Bedacht nehmen, dass sie durch richtige Uebung ge-
stärkt und geschärft werden und so für ihren künftigen Ge-
brauch eine gute Grundlage erhalten. Es kann nicht genug
empfohlen werden, die Kinder schon im zarten Alter zu ge-
wöhnen, Alles mit voller Aufmerksamkeit und Schärfe
zu sehen und zu hören, also z. B. die Entfernungen und Rich-
tungen, wo die Sinneseindrücke herkommen, durch Uebung
abschätzen, die Dinge an sich und durch Vergleichung mit an-
deren hinsichtlich der Aehnlichkeiten und Unterschiede richtig
auffassen zu lernen u. s. w. Daher dürfen aber auch nie mehr
Gegenstände auf einmal in den Wahrnehmungskreis des Kin-
des gebracht werden, als es mit seiner Auffassung zu umfas-
sen vermag; und das Maass und die Dauer der Sinnesreize
müssen der Art sein, dass keine Erschöpfung oder Uebersätti-
gung eintritt, weshalb auch hier der angemessene Wechsel mit
den Ruhepausen unbedingt nöthig ist. -- Mittels der Sinnes-
thätigkeit entwickelt sich das Vorstellungsvermögen; je schär-
fer und vollständiger die erstere, desto bestimmter und klarer
werden die Vorstellungen. Den richtigen Sinnesgeschmack
und Schönheitssinn suche man besonders dadurch zu wecken
und zu fördern, dass man das Kind zunächst soviel als mög-
lich mit schönen Eindrücken umgibt und wenigstens immer
nur auf diese die kindliche Aufmerksamkeit lenkt, sodass in
Form, Farben und Tönen dem Kinde überall nur das mög-
lichst Reine und Schöne entgegentritt. Die Gegensätze können
und dürfen dem Kinde allerdings nicht für immer entzogen
werden, doch für diese mehr reale Ausbildung der äusseren
und inneren Sinnesorgane ist erst eine spätere Zeit geeignet.

Wenn die stumme Sinnesthätigkeit eine gewisse Zeit hin-
durch stattgefunden hat, d. h. wenn die Sinneseindrücke die
anfangs schlummernden Seelenkeime geweckt und genügend
befruchtet haben, erscheint in dem Kinde das Bedürfniss des
geistigen Wechselverkehres mit der Aussenwelt -- es beginnt
zu sprechen. Die Sprache, die Verkörperung des Geistes-
lebens, ist das Mittel, an welchem der Geist gleichsam erst

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tiger und greller Sinneseindrücke, plötzlicher Uebergänge der
Extreme zu schonen, sondern wir müssen auch jetzt schon
darauf Bedacht nehmen, dass sie durch richtige Uebung ge-
stärkt und geschärft werden und so für ihren künftigen Ge-
brauch eine gute Grundlage erhalten. Es kann nicht genug
empfohlen werden, die Kinder schon im zarten Alter zu ge-
wöhnen, Alles mit voller Aufmerksamkeit und Schärfe
zu sehen und zu hören, also z. B. die Entfernungen und Rich-
tungen, wo die Sinneseindrücke herkommen, durch Uebung
abschätzen, die Dinge an sich und durch Vergleichung mit an-
deren hinsichtlich der Aehnlichkeiten und Unterschiede richtig
auffassen zu lernen u. s. w. Daher dürfen aber auch nie mehr
Gegenstände auf einmal in den Wahrnehmungskreis des Kin-
des gebracht werden, als es mit seiner Auffassung zu umfas-
sen vermag; und das Maass und die Dauer der Sinnesreize
müssen der Art sein, dass keine Erschöpfung oder Uebersätti-
gung eintritt, weshalb auch hier der angemessene Wechsel mit
den Ruhepausen unbedingt nöthig ist. — Mittels der Sinnes-
thätigkeit entwickelt sich das Vorstellungsvermögen; je schär-
fer und vollständiger die erstere, desto bestimmter und klarer
werden die Vorstellungen. Den richtigen Sinnesgeschmack
und Schönheitssinn suche man besonders dadurch zu wecken
und zu fördern, dass man das Kind zunächst soviel als mög-
lich mit schönen Eindrücken umgibt und wenigstens immer
nur auf diese die kindliche Aufmerksamkeit lenkt, sodass in
Form, Farben und Tönen dem Kinde überall nur das mög-
lichst Reine und Schöne entgegentritt. Die Gegensätze können
und dürfen dem Kinde allerdings nicht für immer entzogen
werden, doch für diese mehr reale Ausbildung der äusseren
und inneren Sinnesorgane ist erst eine spätere Zeit geeignet.

Wenn die stumme Sinnesthätigkeit eine gewisse Zeit hin-
durch stattgefunden hat, d. h. wenn die Sinneseindrücke die
anfangs schlummernden Seelenkeime geweckt und genügend
befruchtet haben, erscheint in dem Kinde das Bedürfniss des
geistigen Wechselverkehres mit der Aussenwelt — es beginnt
zu sprechen. Die Sprache, die Verkörperung des Geistes-
lebens, ist das Mittel, an welchem der Geist gleichsam erst

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[108/0112] 2.—7. JAHR. KÖRPERL. SEITE. AUSBILDUNG U. PFLEGE EINZELNER THEILE. tiger und greller Sinneseindrücke, plötzlicher Uebergänge der Extreme zu schonen, sondern wir müssen auch jetzt schon darauf Bedacht nehmen, dass sie durch richtige Uebung ge- stärkt und geschärft werden und so für ihren künftigen Ge- brauch eine gute Grundlage erhalten. Es kann nicht genug empfohlen werden, die Kinder schon im zarten Alter zu ge- wöhnen, Alles mit voller Aufmerksamkeit und Schärfe zu sehen und zu hören, also z. B. die Entfernungen und Rich- tungen, wo die Sinneseindrücke herkommen, durch Uebung abschätzen, die Dinge an sich und durch Vergleichung mit an- deren hinsichtlich der Aehnlichkeiten und Unterschiede richtig auffassen zu lernen u. s. w. Daher dürfen aber auch nie mehr Gegenstände auf einmal in den Wahrnehmungskreis des Kin- des gebracht werden, als es mit seiner Auffassung zu umfas- sen vermag; und das Maass und die Dauer der Sinnesreize müssen der Art sein, dass keine Erschöpfung oder Uebersätti- gung eintritt, weshalb auch hier der angemessene Wechsel mit den Ruhepausen unbedingt nöthig ist. — Mittels der Sinnes- thätigkeit entwickelt sich das Vorstellungsvermögen; je schär- fer und vollständiger die erstere, desto bestimmter und klarer werden die Vorstellungen. Den richtigen Sinnesgeschmack und Schönheitssinn suche man besonders dadurch zu wecken und zu fördern, dass man das Kind zunächst soviel als mög- lich mit schönen Eindrücken umgibt und wenigstens immer nur auf diese die kindliche Aufmerksamkeit lenkt, sodass in Form, Farben und Tönen dem Kinde überall nur das mög- lichst Reine und Schöne entgegentritt. Die Gegensätze können und dürfen dem Kinde allerdings nicht für immer entzogen werden, doch für diese mehr reale Ausbildung der äusseren und inneren Sinnesorgane ist erst eine spätere Zeit geeignet. Wenn die stumme Sinnesthätigkeit eine gewisse Zeit hin- durch stattgefunden hat, d. h. wenn die Sinneseindrücke die anfangs schlummernden Seelenkeime geweckt und genügend befruchtet haben, erscheint in dem Kinde das Bedürfniss des geistigen Wechselverkehres mit der Aussenwelt — es beginnt zu sprechen. Die Sprache, die Verkörperung des Geistes- lebens, ist das Mittel, an welchem der Geist gleichsam erst

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/112>, abgerufen am 07.05.2024.