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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM, HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN.
sehr eine gleichmässige Ausbildung beider Arme im gewöhn-
lichen Leben vernachlässigt wird, lehrt die tägliche Erfahrung.
Mit äusserst seltenen Ausnahmen wird zu allen Handierungen
vorzugsweise der eine Arm gebraucht. Der andere Arm spielt
dabei entweder gar keine oder nur eine äusserst untergeord-
nete Rolle. Er ist schwächer, schlaffer, gleichsam verküm-
mert, daher für die meisten praktischen Zwecke unbrauchbar, so
dass solche Personen in wirkliche Verlegenheit gerathen, wenn
der Stief-Arm einmal in den Fall kommt, eine selbständige
Aufgabe zu erfüllen.

Da gerade die in Rede stehende Periode des kindlichen
Alters es ist, in welcher die meisten der bleibenden körper-
lichen Gewohnheiten sich bilden, so ist es jetzt ganz beson-
ders wichtig, danach zu streben, dass das Kind durchaus
richtige Gewohnheiten sich aneigne. Man kann es, wenn
zu rechter Zeit damit begonnen und mit einiger Consequenz
fortgefahren wird, in diesem Alter sehr bald dahin bringen,
dass das Kind, wenn es ja in einer solchen Beziehung aus-
nahmsweise sich einmal vergessen und aus der richtigen Ge-
wohnheit fallen sollte, sofort durch das bereits gebildete, in-
stinktartig sichere, eigene Gefühl erinnert und veranlasst
wird, in die richtige Gewohnheit zurückzukehren. Die richti-
gen Gewohnheiten müssen zur Natur werden. Dann hat die
Ueberwachung von Seiten der Erzieher, welche nur anfangs
etwas mühsam ist, ein immer leichteres Spiel und wird endlich
ganz entbehrlich. Die anfängliche Mühe belohnt sich also
reichlich. Ist es z. B. einem Kinde einmal als feste Regel
eingeprägt, dass es, wenn es bei dieser oder jener Beschäfti-
gung den einen Arm stark gebraucht hat, ebenso auch dem
anderen Arme dieselbe Rolle übertragen muss, so wird es
vermöge der Gewohnheit dies stets bei allen verschiedenen,
künftig ihm vorkommenden Beschäftigungen von selbst thun.
Insbesondere wird dies geschehen, so oft das Gefühl der Er-
müdung zum Wechsel auffordert, während bei einseitiger Ge-
wohnheit die Abwechselung schon aus Mangel an Geschick des
anderen Armes nicht zu Stande kommen wird. Auch ist der
vielseitige praktische Nutzen nicht gering anzuschlagen, den

2.—7. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM, HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN.
sehr eine gleichmässige Ausbildung beider Arme im gewöhn-
lichen Leben vernachlässigt wird, lehrt die tägliche Erfahrung.
Mit äusserst seltenen Ausnahmen wird zu allen Handierungen
vorzugsweise der eine Arm gebraucht. Der andere Arm spielt
dabei entweder gar keine oder nur eine äusserst untergeord-
nete Rolle. Er ist schwächer, schlaffer, gleichsam verküm-
mert, daher für die meisten praktischen Zwecke unbrauchbar, so
dass solche Personen in wirkliche Verlegenheit gerathen, wenn
der Stief-Arm einmal in den Fall kommt, eine selbständige
Aufgabe zu erfüllen.

Da gerade die in Rede stehende Periode des kindlichen
Alters es ist, in welcher die meisten der bleibenden körper-
lichen Gewohnheiten sich bilden, so ist es jetzt ganz beson-
ders wichtig, danach zu streben, dass das Kind durchaus
richtige Gewohnheiten sich aneigne. Man kann es, wenn
zu rechter Zeit damit begonnen und mit einiger Consequenz
fortgefahren wird, in diesem Alter sehr bald dahin bringen,
dass das Kind, wenn es ja in einer solchen Beziehung aus-
nahmsweise sich einmal vergessen und aus der richtigen Ge-
wohnheit fallen sollte, sofort durch das bereits gebildete, in-
stinktartig sichere, eigene Gefühl erinnert und veranlasst
wird, in die richtige Gewohnheit zurückzukehren. Die richti-
gen Gewohnheiten müssen zur Natur werden. Dann hat die
Ueberwachung von Seiten der Erzieher, welche nur anfangs
etwas mühsam ist, ein immer leichteres Spiel und wird endlich
ganz entbehrlich. Die anfängliche Mühe belohnt sich also
reichlich. Ist es z. B. einem Kinde einmal als feste Regel
eingeprägt, dass es, wenn es bei dieser oder jener Beschäfti-
gung den einen Arm stark gebraucht hat, ebenso auch dem
anderen Arme dieselbe Rolle übertragen muss, so wird es
vermöge der Gewohnheit dies stets bei allen verschiedenen,
künftig ihm vorkommenden Beschäftigungen von selbst thun.
Insbesondere wird dies geschehen, so oft das Gefühl der Er-
müdung zum Wechsel auffordert, während bei einseitiger Ge-
wohnheit die Abwechselung schon aus Mangel an Geschick des
anderen Armes nicht zu Stande kommen wird. Auch ist der
vielseitige praktische Nutzen nicht gering anzuschlagen, den

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[104/0108] 2.—7. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM, HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN. sehr eine gleichmässige Ausbildung beider Arme im gewöhn- lichen Leben vernachlässigt wird, lehrt die tägliche Erfahrung. Mit äusserst seltenen Ausnahmen wird zu allen Handierungen vorzugsweise der eine Arm gebraucht. Der andere Arm spielt dabei entweder gar keine oder nur eine äusserst untergeord- nete Rolle. Er ist schwächer, schlaffer, gleichsam verküm- mert, daher für die meisten praktischen Zwecke unbrauchbar, so dass solche Personen in wirkliche Verlegenheit gerathen, wenn der Stief-Arm einmal in den Fall kommt, eine selbständige Aufgabe zu erfüllen. Da gerade die in Rede stehende Periode des kindlichen Alters es ist, in welcher die meisten der bleibenden körper- lichen Gewohnheiten sich bilden, so ist es jetzt ganz beson- ders wichtig, danach zu streben, dass das Kind durchaus richtige Gewohnheiten sich aneigne. Man kann es, wenn zu rechter Zeit damit begonnen und mit einiger Consequenz fortgefahren wird, in diesem Alter sehr bald dahin bringen, dass das Kind, wenn es ja in einer solchen Beziehung aus- nahmsweise sich einmal vergessen und aus der richtigen Ge- wohnheit fallen sollte, sofort durch das bereits gebildete, in- stinktartig sichere, eigene Gefühl erinnert und veranlasst wird, in die richtige Gewohnheit zurückzukehren. Die richti- gen Gewohnheiten müssen zur Natur werden. Dann hat die Ueberwachung von Seiten der Erzieher, welche nur anfangs etwas mühsam ist, ein immer leichteres Spiel und wird endlich ganz entbehrlich. Die anfängliche Mühe belohnt sich also reichlich. Ist es z. B. einem Kinde einmal als feste Regel eingeprägt, dass es, wenn es bei dieser oder jener Beschäfti- gung den einen Arm stark gebraucht hat, ebenso auch dem anderen Arme dieselbe Rolle übertragen muss, so wird es vermöge der Gewohnheit dies stets bei allen verschiedenen, künftig ihm vorkommenden Beschäftigungen von selbst thun. Insbesondere wird dies geschehen, so oft das Gefühl der Er- müdung zum Wechsel auffordert, während bei einseitiger Ge- wohnheit die Abwechselung schon aus Mangel an Geschick des anderen Armes nicht zu Stande kommen wird. Auch ist der vielseitige praktische Nutzen nicht gering anzuschlagen, den

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/108>, abgerufen am 06.05.2024.